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Stolz auf ihre Herkunft aus der Arbeiterschicht. Delaney wurde mit dem Stück „A Taste of Honey“ berühmt.

© Howell Evans/Getty Images

Shelagh Delaney passte sich nicht an: Wie eine Arbeitertochter das britische Theater aufrüttelte

Sie kam von ganz unten, und wollte nach oben. Shelagh Delaneys Wut revolutionierte das britische Nachkriegsdrama. Eine Wiederentdeckung.

Herr Slovve hat einen Lieblingsschüler. Harold heißt er und bekommt von Herrn Slovve Geschenke, mal eine Tüte Obst, mal einen edlen Füller. Harold kann zwar kaum schreiben, aber das macht nichts.

Harold gehorcht, er nimmt, was er bekommt, und fordert nie.

„Er sieht aus, als wäre er aus Knetmasse gemacht“, sagt die Ich-Erzählerin in Shelagh Delaneys Kurzgeschichte „Der Lehrer“.

Sie besteht nicht aus Knetmasse. Herr Slovve nennt die Erzählerin „spannenlang“, „verstockt“ und einen „Nichtsnutz“, denn sie ist eine, die denkt und sich nicht anpassen will.

Unbrauchbar für Slovve und eine Gesellschaft von Korpsgeist: „Wir lehren euch die Freude an sportlicher Betätigung, damit ihr, wenn ihr die Schule einmal verlasst, erkennt, dass auch das Leben ein Spiel ist, manchmal ein ernstes, manchmal eines, das Spaß macht, aber immer ein Spiel, das mit echtem Teamgeist gespielt werden muss – für Außenseiter gibt es keinen Platz in diesem Leben.“

Gegen den Sportterror

Scharf und ironisch nimmt Delaney die Ungerechtigkeit der englischen Nachkriegsgesellschaft aufs Korn, in ihren Theaterstücken ebenso wie in den Texten des 1963 erschienen Prosabands „Sweetly Sings the Donkey“. Tobias Schwartz hat ihr Werk nun erstmals komplett ins Deutsche übertragen.

Delaneys Wirken als Dramatikerin und Schriftstellerin wird zur Strömung der sogenannten Angries, der „Angry young men“, gerechnet. Die jungen Autoren, oft der Arbeiterschicht entstammend, kennen die Benachteiligung und Diskriminierung, die Armut, den Alkoholismus.

Shelagh Delaney, die einzige „wütende junge Frau“, kommt 1938 als Kind einer Fabrikarbeiterin und eines irischstämmigen Busfahrers auf die Welt.

Ihre Eltern nennen sie Sheila, aber das ist der jungen Frau zu brav. 1958 verschickt sie das Manuskript ihres ersten Theaterstücks „A Taste of Honey“ und nennt sich selbst Shelagh, was sie für die irische Schreibweise von Sheila hält. Die Entscheidung ist symptomatisch für Delaney und ihren Unterschichtsstolz.

Aufstieg aus der Unterschicht

„A Taste of Honey“, uraufgeführt im „Theatre Workshop“, dreht sich um Jo, eine junge Frau aus der Arbeiterschicht. Sie will aufsteigen, etwas aus ihrem Leben machen. Aber Jo fühlt sich vernachlässigt von ihrer Mutter Helen, die sich mit Billigschnaps über das Elend hinwegtröstet.

Halb aus Langeweile beginnt Jo eine Affäre mit einem schwarzen Matrosen, der sich nach kurzem Techtelmechtel davonmacht. Sie findet Unterschlupf bei ihrem besten Freund Geoffrey. Eine junge Frau, schwanger mit einem dunkelhäutigen Kind, findet Sicherheit bei einem schwulen Mann – eine WG der Diskriminierten.

„A Taste of Honey“ ist ein feministisches Manifest. „Was würde ich nur für ein eigenes Zimmer geben“, faucht Jo in der ersten Szene und verweist damit auf Virginia Woolfs Meilenstein „A Room of One’s Own“.

Der weibliche Blick prägt das Stück und trägt „A Taste of Honey“ weit über den Gegensatz Oberschicht gegen Unterschicht hinaus. Delaney fokussiert auf das Leben der Schwächsten unter den Schwachen: die das falsche Geschlecht haben, das falsche Geschlecht lieben oder die falschen Pigmente in ihrer Haut tragen.

Triumph bis zum Broadway

Die Aufführungen von „A Taste of Honey“ im „Theatre Workshop“ werden zum Triumph. Das Stück reüssiert in Moskau und am Broadway, 1961 kommt die Verfilmung von Tony Richardson in die Kinos.

Zwei Jahre später – Delaney ist gerade einmal 21 – bringt sie „The Lion in Love“ auf die Bühne. Das Stück hat, anders als „A Taste of Honey“, keine linear aufgebaute Geschichte, es präsentiert ein Panorama an Figuren und Situationen. Die meist männlichen Kritiker verreißen das Stück heftig, ja böswillig. Es bleibt Delaneys letztes Theaterstück.

[Shelagh Delaney: A Taste of Honey. Aus dem Englischen von Tobias Schwartz. Aviva Verlag, Berlin 2019. 400 S., 22 €. Am Freitag, 10. 1., um 19.30 Uhr stellt Manuela Reichart Buch und Autorin im Gespräch mit Schwartz im Literaturhaus Berlin vor]

Eine junge Frau macht in den 50er Jahren Karriere und hat auch noch Erfolg. Schon vor „The Lion in Love“ kämpft Delaney mit dem Sexismus und Paternalismus ihrer Zeit. Die Demütigung schlägt sich in den späten Erzählungen aus „Sweetly Sings the Donkey“ deutlich nieder.

Delaneys Ton wird düster, besonders bedrückend liest sich Delaneys Text „Alles über und an eine Künstlerin“, den sie aus Leserbriefen und Kritiken zu ihren beiden Theaterstücken zusammenstückelt. Eine Ansammlung aus Unverschämtheit, unverstelltem Mansplaining und sexistischen Abfälligkeiten.

Attacken der männlichen Kritiker

Die Kurzgeschichten von „Sweetly Sings the Donkey“ entstehen über einige Jahre. In einem Panoptikum ganz verschiedener Erzählungen konzentriert sich Delaneys Kernmotiv: Ein gesellschaftliches System, das niederhält, was schon immer unten war.

Schwache, die das System erhalten, indem sie sich fügen. Gewinnen können sie in Herrn Slovves „Teamspiel des Lebens“ trotzdem nicht: Harold, Lieblingsschüler und ultimativer Teamspieler, wird das Opfer von Slovves pädophilen Gelüsten.

Was tun? Delaney stemmt die Hufe in den Boden und singt gegen das Unrecht an, ganz wie der Esel aus der englischen Volksweise. „Sweetly sings the donkey / At the break of day. / If you do not feed him. / This is what he’ll say. / Hee haw, hee haw!“ Ein halbes Jahrhundert später singt Delaney nun endlich auf Deutsch.

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