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Szenenbild aus "Oratorium" von She She Pop.

© Benjamin Krieg / She She Pop

She She Pop beim Theatertreffen: Triumph des Kollektivs

Die Performerinnen von She She Pop sind mit ihrem „Oratorium“ beim Theatertreffen dabei – und bekommen den Berliner Theaterpreis.

Im Jahr 1988 bekam ihn George Tabori, 1996 Heiner Müller, 2012 Sophie Rois und jetzt: She She Pop. Dass die Frauen-Performancegruppe dieses Jahr im Rahmen des Theatertreffens mit dem Berliner Theaterpreis der Stiftung Preußische Seehandlung ausgezeichnet wird, ist aus mehreren Gründen folgerichtig. Zum einen haben die Künstlerinnen diese Auszeichnung längst verdient mit ihren unverkrampft luziden Arbeiten, die, ausgehend von den eigenen Biografien, die denkbar größten gesellschaftlichen Phänomene durchleuchten und dabei auf konsequente Weise Diskursfitness mit Privatem verbinden, bis hin zu Tabus wie Scham und Peinlichkeit.

Zum zweiten passt die Tatsache, dass der Preis auf einen Schlag an sieben Frauen geht – namentlich Mieke Matzke, Lisa Lucassen, Ilia Papatheodorou, Berit Stumpf, Johanna Freiburg, Fanni Halmburger und Elke Weber plus den Quotenmann Sebastian Bark – natürlich perfekt in den Zeitgeist. Genau wie die Konsequenz, ihn statt einem Einzelkünstler oder einer Einzelkünstlerin einer Gruppe zu verleihen. Denn heute sieht man im anti-hierarchischen Kollektiv als solchem, um es mit Lisa Lucassen zu sagen, ja glücklicherweise nicht nur „eine akzeptierte Form des Seins, des Kunstschaffens und der Entscheidungsfindung“. Sondern die Gruppenarbeit ist geradezu der letzte Schrei. „Wo finde ich denn die Leute für das Kollektiv, das ich gründen möchte?“ So lautet, wiederum in einem Lucassen-Bonmot, anno 2019 die kreativbranchlerische Berufseinstiegsfrage.

Zwei Kollektive so viel wert wie ein Stefan Puchler

Was man dabei schnell vergisst: Als die Karriere der 1998 aus dem Gießener Studiengang für Angewandte Theaterwissenschaften hervorgegangenen Performance-Gruppe begann, war praktisch in jeder Hinsicht das Gegenteil der Fall. 2001, erinnert sich Lucassen, habe Tom Stromberg zum Auftakt seiner Intendanz am Deutschen Schauspielhaus Hamburg zum Beispiel eine „Reigen“-Inszenierung nach Arthur Schnitzler in Auftrag gegeben, bei der die zehn Szenen von zehn verschiedenen Regisseuren inszeniert werden sollten.

Eine davon überantwortete er zwei Kollektiven: She She Pop und ihrem, wenn man so will, männlichen Pendant Showcase Beat Le Mot. Nach den Durchlaufproben, so Lucassen, „musste man sich immer im Conver treffen“, der Stadttheater-Variante eines Teamsitzungs- und Besprechungsraumes. Sie wüsste noch genau, wie sie dort immer „ganz schnell hingeflitzt“ seien, „denn sobald wir saßen, war da kein Platz mehr“. Das ist nur eines von vielen Sinnbildern dafür, wie wenig die Institution Theater vor knapp zwei Jahrzehnten auf Kollektiv-Künstlerschaften eingerichtet war.

„Es zeigt natürlich auch den Stellenwert“, sagt Lucassen mit hintergründiger Ironie. „2001 waren zwei Kollektive praktisch so viel wert wie ein Stefan Pucher. Und natürlich wurden wir auch genau so bezahlt!“ Geholfen habe da eigentlich nur, „mit einiger Impertinenz“ weiterzumachen.

Nicht nur Theater-, sondern Theatertreffen-Geschichte

Umso bemerkenswerter, dass She She Pop auf diesem Weg auch noch völlig neue Theaterformate erfanden. Sie adaptierten nicht nur die (Game-)Show für ihre Arbeiten, sondern dürfen sich - auch so ein Trend, ohne den heute kein Projekt-Antrag mehr auskommt – mit Fug und Recht als Pionierinnen des partizipativen Theaters fühlen. Wobei sie das teilnehmende Publikum mit seinen eigenen Waffen schlugen.

„Die hat ein bisschen zugenommen, die hat ziemlich lange Beine, und die kann schön singen.“ Auf derlei Qualitätsurteile, erzählt Lucassen, sei am Anfang ihrer Karriere das Rezipienten-Feedback hinausgelaufen. Statt es allerdings schicksalsergeben dabei zu belassen, drehten She She Pop den Spieß einfach um. In ihrer Performance „Bad“ 2002 auf Kampnagel in Hamburg empfingen sie nackt ihre Zuschauer, die jeweils einzeln den Spielort betraten, um sie kollektiv hochnäsig zu mustern, ihre Outfits zu kommentieren und sie auf diese Weise selbst in jenen Objekt-Status hineinzudissen, in den normalerweise sie selbst gepresst werden.

Nur konsequent, dass She She Pop nicht nur Theater-, sondern auch Theatertreffen-Geschichte geschrieben hat. Der epochale Abend „Testament“ aus dem Festival-Jahrgang 2011, an dem die Performerinnen mit ihren realen Vätern auf der Bühne standen, um auf der Folie von Shakespeares „King Lear“ Generationskonflikte, materielle wie ideelle Erbschaftsfragen und ganz konkrete Pflegefall-Ängste zu verhandeln, ist unvergessen. Mit einem ähnlich schwergewichtigen Sujet ist die Gruppe auch dieses Jahr bei der renommierten Branchenschau vertreten. „Oratorium“ behandelt die Frage des Privateigentums und bedient sich methodisch bei der Brechtschen Lehrstück-Theorie.

Mehr tote Leute haben den Preis bekommen als Frauen

„Ich finde es natürlich toll, für einen Preis ausgewählt zu werden“, kommt Lucassen auf die bevorstehende Ehrung zurück. Zugleich mische sich in diese „wirklich aufrichtige und ehrliche Freude" allerdings auch ein „Moment von Schreck und Ehrfurcht" angesichts der Tatsache, wer den Berliner Theaterpreis noch alles gewonnen hat. „Da stehen einfach mehrere meiner persönlichen Idole auf der Liste", so Lucassen, zum Beispiel Pina Bausch. Und schließlich ist da noch ein Punkt. „Wenn ich so durchzähle, stehen da 29 Männernamen, elf Frauennamen“, und davon insgesamt zwölf bereits Tote. Kurzum: „Mehr tote Leute haben den Preis bekommen als Frauen!“

Und: „Der Preis ist mit Geld dotiert“, mit 20 000 Euro, sagt Lucassen, „ das können wir gut brauchen.“

„Oratorium“ am 10. 12. 13. und 14. Mai im HAU 1. Preisverleihung am 5. Mai im Haus der Festspiele, 11.30 Uhr.

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