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Gustav Klimt, Illustration zu den „Hetärengesprächen“ von Lukian von Samosata.

© Gustav Klimt/picture alliance/Artcol

Sexualität in Corona-Zeiten: Masturbation ist Selbstfürsorge!

Reden über Selbstbefriedigung ist in unserer Gesellschaft meist noch verpönt. Die Corona-Zeit könnte Anlass sein, unser Verständnis von Sexualität zu überdenken.

Wenn die letzten Monate eines gezeigt haben, dann dass sich eine Gesellschaft der Überfülle an Unverfügbarkeit und Verzicht nur schwer gewöhnen kann. Doch nicht nur Klopapier und Desinfektionsmittel wurden durch die Pandemie knapp, auch die intime Zwischenmenschlichkeit leidet in der Krise.

Die forcierte körperliche Distanz des Lockdowns hat dem zwanglosen One-Night-Stand oder dem käuflichen Sex eine Zwangspause auferlegt, der Lagerkoller in vielen Beziehungen das Lustprinzip außer Kraft gesetzt. 

Und doch könnte die Coronazeit Anlass geben, unser Verständnis von Sexualität zu überdenken. Insbesondere ein Thema, dass bei vielen noch immer mit Schamgefühlen beschwert ist, könnte dabei ein Schlüssel sein: die Masturbation.

Die erzwungene Isolation hat viele Menschen emotional und sexuell auf sich selbst zurückgeworfen. Da ist es wenig verwunderlich, dass Selbstbefriedigung einen hohen Stellenwert im Sexualleben bekam. Das legen auch die nach oben schnellenden Zugriffszahlen von Pornoanbietern nahe, die dezidiert mit Corona-Angeboten und kostenlosen Premiumabos lockten. 

Ansturm auf Sexspielzeug

Auch das Geschäft mit Sexspielzeug erlebt einen wahren Ansturm auf ihr Sortiment während des Lockdowns. Der Onlinehändler Eis beispielsweise gab bekannt, dass der Absatz von Solosexartikeln wie Vibratoren in Bayern um 300 Prozent gestiegen ist.

Aber was bleibt davon, nun, da sich der Lockdown offenbar dem Ende entgegen neigt? Zu hoffen ist, dass es leichter fällt, uns stolz zu einer Sexualität mit uns selbst zu bekennen. Trotzdem ist das Reden über den Solosex in unserer liberalen Gesellschaft meist noch verpönt.

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Ausgerechnet das Zeitalter der Aufklärung, die Geburtsstunde der persönlichen Handlungsfreiheit, rückte die Masturbation in den Mittelpunkt einer Mission, die das Individuum vor seinen eigenen Trieben schützen wollte. Damalige Vordenker wie Jean-Jacques Rousseau predigten Selbstzucht und Mäßigung, fürchteten, dass die Exzesse der individuellen Freiheit die gesellschaftlichen Normen ins Wanken bringen könnten. 

Selbst in der damaligen Medizin verteufelte man die Masturbation als Ursprung körperlicher Leiden und Krankheiten: Blindheit, Epilepsie, Zeugungsunfähigkeit, Wachstumshemmungen oder Tuberkulose, sie alle wurden auf die „Selbstschändung“ zurückgeführt.

All die weltfremden Phantasmen sind heute größtenteils widerlegt, das Onanieren wird sogar als Medizin angepriesen. So soll es etwa helfen Stress abzubauen, die Konzentration zu steigern, Schmerzen zu lindern und Blasenentzündungen und Prostatakrebs vorzubeugen. 

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Letztes Jahr empfahl die Barmer Ersatzkasse die Masturbation sogar als natürliche Einschlafhilfe. Gerade in den strapazierenden zurückliegenden Wochen also absolut empfehlenswert.

Dennoch ist Masturbation mehr als ein Instrument der Selbstoptimierung, bei der der schnelle Orgasmus im Mittelpunkt steht. „Ich beobachte einen Wandel vom Leistungsprinzip hin zum Lustprinzip“, sagt die Pornoforscherin Madita Oeming, „andererseits gibt es auch einen Orgasmusoptimierungsdrang und auch hier gilt: besser, schneller, effektiver“. 

Die Sexspielzeugindustrie sei schließlich primär an unserem Geld interessiert, nicht an unserer sexuellen Befreiung. Diese Funktionalisierung und Kommerzialisierung der Masturbation, reduziert sie zu einer simplen Aufgabe und lässt die Erkundung der eigenen sexuellen Bedürfnisse in den Hintergrund rücken, besonders bei Frauen.

In seinem Buch „Die einsame Lust“ bezeichnet der amerikanische Kulturhistoriker Thomas Lacqueur die Selbstbefriedigung als die erste komplett demokratische Sexualität, da sie jeder Person in gleichem Maße zusteht. Doch so richtig die Prämisse ist, so falsch wäre die Schlussfolgerung, dass bei der Masturbation alle gleich sind.

„Weibliche Masturbation genießt nicht die gleiche Selbstverständlichkeit wie die männliche“, sagt Madita Oeming. „Unser Denken ist immer noch stark von einem veralteten Narrativ der Sexualität geprägt: Sex ist etwas, das Männer brauchen und Frauen ihnen geben.“ 

Dabei, erklärt Madita Oeming, ist gerade die Sexualität mit uns selbst nicht nur meist die erste, sondern auch wichtigste. Hier lernen wir unsere Bedürfnisse und Körper kennen, was die beste Voraussetzung für eine gesunde Sexualität mit anderen ist.

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Dass Masturbation ein revolutionäres Potential für ein neues Verständnis von Sexualität birgt, zeigte sich schon in den 1960er-Jahren, als sie zu einer radikalen feministischen Praxis und Rebellion gegen das Patriarchat wurde. Später wurde sie auch als Akt der homosexuellen Autonomie gegenüber der heteronormativen Ordnung propagiert.

Betty Dodson, eine Pionierin der weiblichen sexuellen Befreiung, schrieb 1974 in ihrem Buch „Liberating Masturbation“, die Selbstbefriedigung sei die primäre Sexualität und sexuelle Basis der Frau. Geschlechtsverkehr sei nur eine Form der Sozialisierung des Sexlebens. 

Trotzdem hält sich bis heute nicht nur bei Frauen die Auffassung, dass Masturbation nur eine Ersatzbefriedigung ist, ein selbstverliehener Trostpreis. Wenn sie in Beziehungen stattfindet, dann meist nur allein, heimlich und schamerfüllt, als würde man die Partnerin oder den Partner mit sich selbst betrügen. 

„Die Masturbation wird als Gegenstück zum Sex verstanden“, sagt Madita Oeming, als wäre es „ein Nullsummenspiel der Orgasmen.“ Doch die Masturbation dient nur wenig als Instrument der sexuellen Freiheit und Fantasie, wenn sie nicht schambefreit mit anderen geteilt werden kann.

Im April stiegen die Google-Suchanfragen zu „Self Care“, also zur Selbstfürsorge, auf ein Rekordhoch. Und Masturbation ist Selbstfürsorge, ein gesunder Akt der Selbstermächtigung gegenüber der Leistungsgesellschaft und einem toxischen Verständnis von Sexualität. 

Die amerikanische Autorin Melissa Broder ging gar so weit, im Magazin „Vice“ zu fragen, wieso wir trotz „Pornos im Überfluss, Sexrobotern, ausgeklügeltem Sexspielzeug und funktionierenden Händen immer noch mit anderen Leuten schlafen“.

Was vielleicht nach Provokation übersättigter Großstadtmisanthropinnen klingt, ist eine durchaus legitime Frage. Schließlich lehrt die Selbstsorge uns auch eine Genügsamkeit mit uns selbst. Hashtags wie #masturdating zelebrieren diese neue Sexualität, die Schauspielerin Emma Watson erhielt reichlich Zuspruch für ihre Aussage „self-partnered“, also in einer Beziehung mit sich selbst, zu sein.

Das Primat der intimen Zweisamkeit ist in diesem Frühjahr nicht einfach verschwunden, aber Anzeichen für einen Wandel sind erkennbar. Was das Thema Selbstbefriedigung braucht, ist nicht nur mehr gesellschaftliche Toleranz, sondern auch Ungeniertheit, sich selber die Liebe zu schenken, die man braucht. Auch nach Corona.

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