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20 Minuten. So lange dauert der Übergang von schwarz zu blau und Nacht zu Tag.

© Julian Stratenschulte/dpa

Serie: Farben des Sommers (1): Morgengrauen

Auf einer Fahrt durch Frankreich schläft unser Autor am Straßenrand. Das Morgengrauen offenbart ihm eine eklige Wahrheit. Teil eins unserer Sommerserie: Farben des Sommers.

Von Andreas Austilat

Morgengrauen, der Moment der Entscheidung, in dem sie die Verurteilten holen und in den alten Western die Indianer angreifen. In dem die Nachtschwärmer nach Hause taumeln und die Schlaflosen sich hin- und herwerfen. Dein noch diffuses Licht offenbart schon so vieles, bevor der Tag aufklart.

Begonnen hatte es auf einem Maisfeld im gleißenden Sonnenschein des Pyrenäenvorlandes. Wir sollten dort die Blüten abschneiden, keine Ahnung warum, ich bin kein Landwirt. Aber der Job war nicht besonders schwierig, und wir, zwei Deutsche und drei Franzosen, wussten, wenn diese Arbeit getan ist, beginnen die Ferien. Wir verabredeten, sie gemeinsam zu verbringen, drüben, in Spanien, mit dem alten Renault unserer neuen Freunde.

Eine Mondlose Nacht

Am letzten Abend feierten wir lang mit den Leuten vom Bauernhof, kamen am Tag darauf spät los. Ein richtiges Ziel hatten wir nicht. Erst nach Madrid, dann mal sehen. Wir fuhren ausschließlich auf Landstraßen, hatten alle Fenster heruntergekurbelt, sogar der Fahrtwind war heiß. Erst der Abend brachte Abkühlung, wenn auch nicht viel.

So rollten wir durch die tiefschwarze Dunkelheit, die Scheinwerfer leuchteten lediglich einen schmalen Tunnel aus. „Lionel“, fragte ich den Fahrer, dem trotz seiner jungen Jahre ein gewaltiger Schnauzbart unter der Nase hing, „wollen wir nicht irgendwann mal halten und schlafen?“ Er versprach, nach einer geeigneten Stelle Ausschau zu halten.

Endlich tat sich am Straßenrand eine breite, unbefestigte Abfahrt auf. Buschwerk säumte den Fahrweg, den keine Laterne erhellte. Die Nacht war mondlos, soweit ich mich erinnere. Wir beschlossen, den Wagen einfach hier irgendwo abzustellen und gleich neben ihm die Schlafsäcke auszurollen.

Die drei Franzosen waren in dieser Hinsicht rustikal, nahezu bedürfnislos. Ich hingegen schlief schlecht, in dieser unbekannten Einöde, in der man die Hand vor Augen nicht sah. Nur zwei Wahrnehmungen drangen ins Bewusstsein, das Zirpen der Grillen und ein seltsamer Geruch, der über der Ebene hing. Irgendwie dumpf.

Irgendetwas hatte mich gestochen

So war ich vor dem Morgengrauen wach, jener auch im Sommer kältesten Stunde der Nacht. In Wahrheit dauert diese kurze Zeitspanne, in der schwarz zu blau wird, wie Peter Fox singt, kaum mehr als 20 Minuten. Während ich also auf die Sonne wartete, die sich mit ersten Strahlen über den Horizont hinweg ankündigte, ertastete ich eine Schwellung auf der Oberlippe. Irgendetwas hatte mich gestochen.

Dann sah ich sie im grauen Morgenlicht: Plastiktüten, die über unser Lager wehten, leere Dosen, die im Gelände lagen, ein aufgerissener Polstersessel. Ich fühlte mich unsagbar schmutzig, tastete noch einmal über die Schwellung in meinem Gesicht. Wahrscheinlich würde sie sich entzünden. Wir hatten tatsächlich auf einer Müllkippe geschlafen.

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