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Kunst am Kranoldplatz. Die von der Bevölkerung wenig geliebten Skulpturen des Bildhauer-Symposiums von 1983 zieren in Neukölln die Stirnseite.

© Kitty Kleist-Heinrich

Serie "Berliner Straßenpaare": der Kranoldplatz: Ein Brunnen, der kein Wasser spendet

Berliner Straßenpaare (3): Ruhepol im Neuköllner Getümmel, Versorger im Lichterfelder Vorort und Falle für Hochzeitsgäste - der Kranoldplatz.

Als Groß-Berlin vor 100 Jahren geschaffen wurde, wuchs das Stadtgebiet von 66 auf 878 Quadratkilometer. Neben Lichtenberg, Schöneberg, Wilmersdorf, Charlottenburg, Neukölln und Spandau gehörten nun auch 59 Umlandgemeinden und 27 Gutsbezirke zur neuen Metropole. Kein Wunder also, dass es im Stadtplan viele Straßennamen doppelt oder sogar mehrfach gibt.

Der Bräutigam wirkt nervös. Als sein eigener Hochzeitsplaner hat er nichts dem Zufall überlassen. Doch irgendetwas stimmt nicht. Er schaut verstohlen über die linke Schulter. Die zweite Reihe vorn ist auffällig leer.

Schon beim Einzug in die Paulus-Kirche hat er Vater und Mutter fixiert und lautlos die Frage „Where are they?“ formuliert. Und nun, wo der Pastor sich entschieden hat, die vom Brautpaar geäußerte Bitte, den Berliner Heiden kurz die Gemeinde vorzustellen, zu einer Traupredigt „50 Jahre Mauerbau“ auszuweiten, sind sie noch immer nicht da. Die samt Frauen und Kindern aus Singapur und Windsor angereisten Brüder.

Der Mauerbau hat die Gemeinde zerteilt

Der Mauerbau ist der Grund dafür, warum die Trauung in dieser leicht mit einem Wohnblock aus den Sechzigern zu verwechselnden Kirche am Kranoldplatz in Neukölln stattfindet und nicht in der backsteinernen Annenkirche am Engelbecken in Mitte. Von ihr wurden die Gemeindeglieder im Westen im August 1961 rabiat getrennt. Vier Jahre später weihen sie notgedrungen ihr neues Gemeindezentrum ein.

Sicher ist es schlicht, doch das große Kreuz an der Fassade weist es als Kirche aus. Von der Adresse gar nicht zu reden, die die verschollene Verwandtschaft samt Wegbeschreibung und Lagekarte in die Hand bekam. Was mag nur in den maximal zehn Minuten Fahrt vom Hotel in der Hermannstraße zur Kirche geschehen sein? Nach Rosenblätterregen und Reisschauern klären die dann doch noch angelandeten Hochzeitsgäste mit bedröppelter Miene auf: Der Taxifahrer hat sie nach Lichterfelde kutschiert!

„Kranoldplatz? Kenn ick!“, sprach der Chauffeur und brauste los, ohne Adresse und hingehaltene Karte eines Blickes zu würdigen. Die in gebrochenem Deutsch vorgebrachten Proteste gegen die verdächtig lange Reise ignoriert er. Vorwärts immer, rückwärts nimmer. Erst als sich am Kranoldplatz in Lichterfelde partout keine Kirche auftreiben lässt, flackern Zweifel in seinem Quadratschädel auf.

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Die Kirche wurde in der vom Hamburger Unternehmer Carstenn ab 1865 angelegten Villenkolonie auf den nahe gelegenen Oberhofer Platz gebaut. Der dreieckige Kranoldplatz am Bahnhof Lichterfelde Ost dient allein der Nahversorgung der im grünen Vorortidyll siedelnden betuchteren Bürger. Und seit 1908 finden hier in trauter Eintracht der städtische Wochenmarkt und der private Ferdinandmarkt statt.

Viktor Ferdinand von Kranold ist Namenspatron der Plätze und auch der beiden Kranoldstraßen in Neukölln und Kaulsdorf. Der Mann war Eisenbahner und Staatsbeamter. Geboren 1838 in Eilenburg, Studium in Leipzig, 1922 in Berlin gestorben.

Bahnbau und Stadtwachstum gehörten zusammen

Während seiner 1893 beginnenden Amtszeit als Präsident der Königlichen Eisenbahndirektion wurden der Bahnhof Hermannstraße in Neukölln und vor allem die für das Florieren des Vorortes maßgebliche Strecke nach Lichterfelde Ost gebaut. Bahnbau und Stadtwachstum waren in der Gründerzeit eins. Das prächtige Portal des sanierungsbedürftigen Lichterfelder Bahnhofs kündet von Glanz und Gloria einstiger Verkehrsinfrastruktur. Und eine Infotafel in der Halle erzählt von der ersten elektrischen Straßenbahn der Welt, die Siemens & Halske hier 1881 abfahren ließ.

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Eine Ahnung jener Villenkolonie-Herrlichkeit liegt immer noch über dem kleinstädtisch wirkenden Lichterfelder Kranoldplatz. Nur das Getöse auf der parallel zum Bahndamm laufenden Lankwitzer Straße ist urban. Mittwochs und samstags verwandelt sich die sonst als Parkplatz dienende Asphaltfläche in der Mitte in einen der quirligsten Märkte Berlins. Ringsum dominieren kleine Geschäfte, kleinteilige Bebauung, emsiges Einkaufstreiben.

Park-Platz. Wenn nicht gerade mittwoch oder samstag ist, liegt der Kranoldplatz in Lichterfelde Ost in kleinstädtischer Ruhe.
Park-Platz. Wenn nicht gerade mittwoch oder samstag ist, liegt der Kranoldplatz in Lichterfelde Ost in kleinstädtischer Ruhe.

© Kitty Kleist-Heinrich

Die von den Zeitläuften gekappten Dächer und Erker einstiger HistorismusBauten erzeugen ulkige Effekte. So wie der reich mit Karyatiden und Nymphen geschmückte, aber seltsam abgeflachte Kasten, in der die Bierbar Palastklause bei Ivan residiert. Auf der alten Postkarte, die Kiezkennerin Jutta Gödicke zeigt, prunkten noch Türme.

Gödicke betreibt einen Spielzeugladen und bringt das Nachbarschaftsmagazin „Ferdinandmarkt“ heraus. Sie ist hier seit 36 Jahren ansässig und hat erlebt, wie sich Kranoldplatz und der überglaste Ferdinandmarkt nebenan zum „Mittelpunkt von Lichterfelde Ost“ entwickelt haben. Doch nun droht Ärger im Paradies gediegener Bürgerlichkeit.

Vor zwei Jahren hat der Investor und Mall-Entwickler Harald Huth große Teile der Gebäudezeilen am Platz gekauft. Eine Bürgerinitiative, in der auch Gödicke Mitglied ist, setzt sich gegen dessen Umbaupläne und die befürchtete Vertreibung kleiner Gewerbetreibender zugunsten großer Filialisten ein.

Der Schriftsteller genießt den Neuköllner Ruhepol

Ein berlintypischer Konflikt, der zum Glück noch nicht zum verschlafenen Namensvetter in Neukölln vorgedrungen ist. Da gibt es im großteils von Altbauten umstandenen Rechteck des Kranoldplatzes gar keine Geschäfte. Und vom einstigen Markttreiben hat außer der Eckkneipe Marktbörse lange Jahre nur ein von der Realität nicht gedecktes Schild mit Wochenmarktzeiten gekündet.

Darauf ist einst auch ein langjähriger Anrainer, der Schriftsteller Tobias O. Meißner reingefallen. Er sitzt an diesem sonnigen Nachmittag unter einer der Silberlinden, deren Rondelle auf dem Kranoldplatz Bänke ersetzen. Dessen Anmutung habe ihn verblüfft, als er auf Wohnungssuche erstmals herkam, erzählt er.

„So ein idyllischer Ruhepol in Neukölln. Fast wie der Körnerpark.“ Das ist das Kompliment eines Autors, den das Treiben auf der Hermann- und Karl-Marx-Straße immerhin zu einem Roman namens „Barbarendämmerung“ inspiriert hat. Am Urteil über seinen Platz ändern auch der Regionalmarkt und der Flohmarkt nichts, die seit einigen Jahren am Wochenende Hipster anlocken. Auf dem Kranoldplatz herrscht eine derartige Leere und Stille, dass sich Meißner beim Schreiben im ersten Stock nur von laut telefonierenden Passanten gestört fühlt.

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Davon, dass der Platz immer ruhig, aber durchaus belebter war, erzählen Postkarten der Jahrhundertwende und kuriose Fotos aus den Fünfzigern, die sich im Archiv des Museums Neukölln auf dem Gutshof Britz befinden. Sie zeigen Geschäfte, Marktstände, üppige Baumreihen, Kirchtürme und die erst stattlichen und nach den Kriegen dann abgeschabten Gründerzeitfassaden.

Das Rätsel des an der Stirnseite des Platzes, gegenüber der Paulus-Kirche gelegenen Skulpturenensembles lässt sich ebenfalls im Museumsarchiv lösen. Der prägnante Mix abstrakter Bildhauerarbeiten liegt wie von einem Riesen ausgestreut auf dem Pflaster. Es könnten Knochen sein oder antike Ruinen. Erstes Stochern ergibt: Das Ding war als Brunnen geplant. Da klafft auch ein Loch im abgetreppten Mittelstein. Und doch hat das durchbrochene Rondell nie Wasser geführt.

Bürger und Künstler fühlen sich verschaukelt

Ein von Senatsbauverwaltung und Bezirk ausgelobtes Bildhauer-Symposium soll den Neuköllnern 1983 die Liebe zur Kunst näherbringen. Eine Broschüre, Flugblätter und Zeitungsartikel schildern die Kontroverse, die die Verschönerung des öffentlichen Raumes ausgelöst hat. Sieben Bildhauer aus Deutschland, Japan, Polen und der Türkei machen sich Gedanken zum Thema „Platz, Marktplatz, Brunnen, Begegnung“.

Die größte der wulstigen Marmorplastiken stammt von Gerson Fehrenbach, einem mehrfach im Stadtbild vertretenen Berliner Bildhauer des Informel. Mal ernten die 400 000 Mark teuren Arbeiten Zustimmung, dann zeigen sich Politiker „persönlich erschüttert“ und die „Berliner Morgenpost“ schlagzeilt „Bürger und Künstler fühlen sich verschaukelt“.

Erstere wollen keine Steine, sondern Blumen und Büsche. Letztere ärgern sich über die „massive Ablehnung“ und das „beziehungslose Herumstehen“ ihrer Werke. Das hat sich 35 Jahre später rein gar nicht verbessert. Umso schöner, dass man dank Mauerfall zwischen Paulus- und Annenkirche jetzt einfach so hin- und herreisen kann.

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