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Sergej Diaghilew: Der Feuervogel, der Faun

Ein Mann erfindet die Avantgarde: Sergej Diaghilew und seine Ballets Russes in einer großartigen Londoner Schau.

Am 18. Mai 1922 lud der englische Schriftsteller und Mäzen Sidney Schiff ins Pariser Hotel Majestic. Man traf sich im kleinen Kreis. Am Tisch saßen Marcel Proust, James Joyce, Igor Strawinsky, Pablo Picasso und Sergej Diaghilew. Dieses vielleicht größte Abendessen in der Geschichte der Kultur des 20. Jahrhunderts ist nur eine Fußnote in der wunderbaren Ausstellung „Diaghilew and The Golden Age of the Ballets Russes“. Aber sie unterstreicht die Bedeutung des Mannes, der das Ballett befreit und auf nachhaltige, moderne Weise die Idee Richard Wagners vom Gesamtkunstwerk realisiert hat.

Diaghilew, geboren 1872 in der tiefen russischen Provinz, besaß die seltene Gabe, stets zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein und herausragende Künstlermenschen in seinem Kreis zu versammeln, deren Genie nach einem Gravitationszentrum suchte. Diaghilew war dieser Impresario. Ein Botschafter russischer Kultur, ein Revolutionär der Kunst. Ein Überwältiger: Das Victoria & Albert Museum London erinnert an eine phänomenale Persönlichkeit, die unsere Vorstellung von Kunst und Avantgarde bis heute prägt. Entschieden theatralisch blieb er bis zu seinem frühen Tod im Jahre 1929. Wie Diaghilew es sich immer gewünscht hatte, starb er am Lido. In der Ausstellung hängt seine letzte Rechnung vom Hotel des Bains, 2118,80 Lire. Eine Blutvergiftung brachte ihm den Tod in Venedig – gleichsam nach dem Drehbuch von Thomas Mann und in Vorwegnahme Viscontis.

Ein Leben, eine Karriere wie im großen Kino. In jungen Jahren genießt er eine musikalische Ausbildung, mit Tanz hat er erst einmal nichts zu tun. 1898 gründet er in St. Petersburg die Zeitschrift „Mir Iskusstva“ (Welt der Kunst). Später arbeitet er auch als künstlerischer Berater für das kaiserliche Theater. Sein Einfluss ist damals schon beträchtlich, er holt neue europäische Kunstströmungen nach Russland, schätzt aber auch die Tradition. Er weiß, wie man Publikum erobert. Er vermarktet sich und seine Künstler glänzend.

Im Frühjahr 1905 rollt durch das Zarenreich die erste Welle der Revolution. Diaghilew kuratiert, wie man heute sagen müsste, in der Hauptstadt St. Petersburg eine große Schau russischer Porträtmalerei. In Anwesenheit des Zaren Nikolaus II. hält er beim Festbankett im Hotel Metropol eine für ihn nicht ungefährliche Rede. Er spricht vom Anbruch einer neuen Zeit, von einer neuen, unbekannten Kultur. Diaghilew erhebt sein Glas „auf die neuen Gebote einer neuen Ästhetik“. Das Alte werde weggefegt, und er hoffe nur, dass das Ende so schön und leuchtend sein möge wie die Auferstehung. Worte eines „unverbesserlichen Sinnenmenschen“, wie er selbst sagt. Ein mutiger Mann, nicht nur in seinen Reden. Diaghilew zeigt offen seine Homosexualität. Im zaristischen Russland war das eine Provokation. Etwas, das die Petersburger Gesellschaft so noch nicht gesehen hatte.

Bald darauf verlässt er Russland, für immer. Nach einer kurzen Phase, in der er Opernaufführungen und Konzerte mit russischen Stars im Ausland organisiert, wirft er sich aufs Ballett. In Paris eröffnet er 1909 die erste Saison der „Ballets Russes“. 1910 „Der Feuervogel“, 1911 „Petruschka“, 1913 „Le Sacre du Printemps“: Die Uraufführungen mit der Musik von Strawinsky schlagen sagenhaft ein. Diaghilew ist ebenso Pragmatiker wie Visionär. Er wählt das Ballett als Medium, weil es beweglicher und nicht so aufwendig ist wie die Oper. Dann wieder stürzt er sich mit Projekten in finanzielle Abenteuer, die jeden üblichen Rahmen sprengen.

Es sind revolutionäre Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, musikalisch, tänzerisch. Der gesamte Gestus der Bühnenkunst verändert sich radikal. 1912 tanzt Vaclav Nijinsky im Pariser Théâtre du Châtelet den „Nachmittag eines Fauns“: ein Skandal. Das Publikum bekommt nicht nur einige schlüpfrige Anspielungen zu sehen. Nijinksy, Diaghilews Liebhaber, scheint sich auf offener Szene in einen Sexrausch hineinzusteigern, zur Musik von Claude Debussy. Nur in Paris ist eine solche künstlerische Explosion damals möglich. Die Londoner Ausstellung zeigt den Triumphzug der Ballets Russes als eine Erfolgsgeschichte des Exils; das Victoria & Albert Museum ist im Besitz der größten Ballets-Russes-Sammlung weltweit.

Diaghilews Truppe arbeitet mit den besten Komponisten – und sie zieht bildende Künstler an. Leon Bakst und Natalia Gontscharowa fertigen Entwürfe für die Bühne. Georges Braque und Picasso zeichnen Kostüme. Für „Parade“, buchstäblich ein Paradestück der Theateravantgarde, schafft Picasso die Ausstattung, Jean Cocteau schreibt das Libretto, Erik Satie komponiert die Musik, die zum ersten Mal – anno 1917 – mit Straßengeräuschen, Schreibmaschinenklappern und dem Knall einer Pistole durchsetzt ist.

Beim Rundgang durch die üppig bestückten Räume des V & A beschleicht einen der Gedanke, dass die Welt von gestern, wie Stefan Zweig sagen würde, spannender war, bewegter und beweglicher. Und dass wir Zwerge heute die schöne Aufgabe haben, die Avantgarde von einst zu hüten, zu sortieren und vielleicht neu zu werten. Zugleich stellt sich die Frage, ob die Riesen seinerzeit ein Bewusstsein hatten für ihre Größe; ob sie wussten, dass sie Gigantisches schufen. Im Fall von Diaghilew muss man das bejahen. Er ist von Anfang an mit breiter Brust und mächtigen Schritten in die Welt hinausmarschiert.

Die Londoner Schau – sie wird leider nicht auf Reisen gehen – prunkt mit Originalkostümen und einem unermesslichen Schatz an Zeichnungen, Fotografien, Plakaten und anderen Dokumenten. Die Wirkung, die vor hundert Jahren von den Ballets Russes ausging, die Sensation, der durchschlagende Erfolg – das alles wirkt heute wie ein Märchen aus ferner Zeit. Aber man bekommt ein Gefühl für die Kraft, die da von Paris aus entfesselt worden ist. Der von Jane Pritchard herausgegebene Katalog ist ein Erlebnis für sich.

Diaghilews Kreationen waren nicht nur auf Schock und Innovation aus, er brachte immer auch Populäres. Russlands Kultur, das Märchenhafte, Wild-Heilige des weiten Landes, war nach der Oktoberrevolution ein Exportschlager. Und plötzlich steht man in der Ausstellung vor einem Bild, das von der Decke bis zum Boden reicht und einen ganzen Raum ausfüllt: Gontscharowas Bühnenvorhang für den „Feuervogel“, ein Gebirge aus zarten Zwiebeltürmchen, Kirchen und Palästen. Das alte Russland. Die revolutionären Ballets Russes trugen Nostalgisches rund um den Globus. Diaghilew und seine Tänzer absolvierten Welttourneen, die ohne Flugzeug, nur mit Bahn und Schiff, an Jules Vernes 80-Tage-Höllenritt erinnern. Die Truppe pflügte kreuz und quer durch Nord- und Südamerika. Die Bühnentechnik an vielen Orten: ein Albtraum. Ebenso die ständigen Umbesetzungen und persönlichen Verwerfungen. Als Nijinsky auf einer Gastspielreise in Buenos Aires eine Tänzerin heiratet, ist die Beziehung mit Diaghilew schlagartig beendet.

Die Londoner Präsentation liefert viel Stoff für Backstagekomödien und -tragödien. Es ist eine sehr unterhaltsame Museumsveranstaltung, auch wenn sich der Tanz gern der Fixierung entzieht; das liegt in seiner Natur. Diaghilew, auch das eine wichtige Erkenntnis, hat feste Ensembles geformt, die in der Lage waren, bahnbrechende Ideen von Strawinsky oder Picasso umzusetzen und weiterzutragen.

Die Ballets Russes tanzen und touren weiter nach Diaghilews Tod. Neue Truppen entstehen, so stark ist die Aura, so gut die Geschäftsidee. Man begreift, dass etwas weitergehen kann, auch wenn es zu Ende ist. Der Choreograf Georges Balanchine, der in den zwanziger Jahren zu Diaghilew stößt, schreibt in New York die Ballettgeschichte weiter. Balanchine beeinflusst mit seinem Hang zur Abstraktion neue Künstlergenerationen, bis hin zu Robert Wilson. Und bald tritt Pina Bausch ins Rampenlicht. Sie ist im Victoria & Albert Museum mit ihrem berühmten Wuppertaler „Frühlingsopfer“ aus dem Jahre 1975 in einem Video zu sehen. Der Anfang einer neuen Revolution. Jetzt auch schon wieder übergroße Vergangenheit.

„Diaghilew and the Golden Age of the Ballets Russes“, Victoria & Albert Museum, London. Katalog: 35 Pfund. Bis 9. Januar. Weitere Infos: www.vam.ac.uk und www.visitlondon.com

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