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"Sechs Koffer" von Maxim Biller: Geheimnisse verrät man nicht

Gefangen zwischen den Systemen: Maxim Biller erzählt in „Sechs Koffer“ den Roman seiner jüdisch-russischen Familie.

Elena Lappins Roman „In welcher Sprache träume ich“, der vor zwei Jahren auf Deutsch veröffentlicht wurde, beginnt mit einem Anruf. Ein Mann ist am Apparat und erzählt der ahnungslosen Lappin, er sei ihr biologischer Vater – und nicht derjenige, der sie und ihren jüngeren Bruder Maxim zusammen mit ihrer Mutter Rada erst in Prag und später in Hamburg aufgezogen hat. Das will verarbeitet werden, und vor diesem Hintergrund rollt Elena Lappin in ihrem autobiografischen Buch die Geschichte ihres oft gezwungenermaßen rastlosen Lebens aus.

Sie erzählen darin auch, das wiederum behauptet ihr Bruder Maxim so ziemlich am Ende seines neuen Romans „Sechs Koffer“, jene Geschichte „über den gewaltsamen Tod unseres Großvaters“. Biller legt hier eine Spur, die in seinem Buch eine von vielen ist, von sechs, um genau zu sein, worauf allein der Titel hinweist. Denn Biller selbst schreibt hier, anders als seine Schwester, nicht chronologisch die Geschichte seines Lebens und einer jüdischen Familie. Sondern er versucht mittels eines mal mehr, mal weniger autobiografischen Romans dem Geheimnis um den Tod seines Großvaters Schmil Grigorewitsch, des „Taten“, wie dieser auch genannt wird, auf den Grund zu kommen. Der Tate wurde im Herbst 1960 in der Sowjetunion hingerichtet, nachdem er wohl schon im Frühjahr am Moskauer Flughafen mit ein paar hundert Dollar verhaftet worden war.

War es sein Onkel Dima, der bei einem Fluchtversuch in den Westen auffliegt und für fünf Jahre ins Gefängnis muss, der den Großvater verraten hat? Das fragt sich Billers Ich-Erzähler zu Beginn von „Sechs Koffer“. Da ist er gerade einmal fünf Jahre alt. Der kleine Maxim fragt das auch ganz direkt seinen Vater Semjon: Er habe nämlich von seiner älteren Schwester Jelena gehört, dass Dima verantwortlich sei. Was Semjon wiederum verneint. „Hat sie das wirklich gesagt?“ – „Nein, sagte ich, das habe ich erfunden.“

1960 wurde der Großvater hingerichtet

Es ist dies ein aufschlussreicher Dialog. Denn Biller dürfte hier tatsächlich einiges erfunden haben. Selbst wenn viele Lebensdaten des Ich-Erzählers mit seinen eigenen übereinstimmen, man überhaupt viele der Familiengeschichten der Billers zu kennen meint: von der schreibenden Mutter Rada, der schreibenden Schwester Elena, von der Zeit erst in Prag, wo Biller 1960 geboren wurde, dann, ab 1970, in Hamburg, von der Übersetzertätigkeit des Vaters, den ersten Schreibversuchen und Talkshow-Auftritten des Sohnes.

Aber wer den Taten auf dem Gewissen hat, ihn an die kommunistischen Machthaber verraten, diesen die Devisenschmuggeleien des Großvaters gesteckt hat, das ist ein Rätsel, das dieser Roman vorgeblich zu lösen versucht. Wenn es nicht Dima war, wer war es dann? Dessen Frau, die Filmemacherin Natalia Gelernter? Oder gar Maxims Mutter Rada? Am Ende doch er selbst, durch eigenes Verschulden? Oder ein anderer Onkel, Lev, der mit niemand mehr aus der Familie reden will. „Konnte es sein, dachte ich auf einmal, dass es ganz anders war - dass im Gegenteil Onkel Lev an Tates Tod Schuld war und dass er darum vor uns allen weglief?“

Maxim Biller erörtet dieses Familiengeheimnis in sechs Kapiteln, die alle einer anderen Figur gewidmet sind, wobei er geschickt die Erzählperspektive wechselt. Zuerst schlüpft er in die Gedankenwelt des Vaters und dann der Mutter, als Ich-Erzähler hält er sich da zurück. Schließlich erlebt man ihn selbst als 15-jährigen Teenager, der seinen Onkel Dima in Zürich besucht, im weiteren folgt ein Brief, den Tante Natalia an seinen Vater geschrieben hat, dann ein Kapitel mit Lev („Ja, genau, das passte sehr gut zum egoistischen Schwächling und Verräter Dima, dachte Lev wütend“) und schlussendlich eins mit der Schwester. Lappin, die in London wohnt, führt ihr Buch „In welcher Sprache träume ich“ zurück nach Hamburg, wo sie vom NDR zu einem Radiogespräch eingeladen wurde.

Biller hat seine Prosa entschlackt

Sehr ansprechend ist, dass Biller quasi wie nebenbei einiges Anekdoten, Legenden und Eigenarten aus der Geschichte einer Familie verrät, In jedem seiner Koffer findet er noch viel mehr als die jeweilige Lesart über das Schicksal des Großvaters. Er lässt hier die familiäre Zerrissenheit zwischen Ost und West offenbar werden, zwischen Hamburg und Zürich, Berlin, Prag und Moskau, letztendlich zwischen den Systemen. Häufig genug stehen die Familienemitglieder vor der Frage, andere zu verraten, um ihre eigene Haut zu retten. Doch zu Streitigkeiten kommt es nicht nur deshalb. Auch um die Liebe geht es, um Liebeszerwürfnisse, um Liebesangebote, um das sexuelle Erwachen des jungen Erzählers, überdies um die Geschichte eines fiktiven Films, für den Tante Natalia sich in Locarno den Hauptpreis mit Louis Malle teilt. Und immer wieder flackert im Hintergrund die tschecheslowakische Nachkriegsgeschichte auf. Hier das Gottwald- Regime, dort die Slansky-Hinrichtung, dazu der Antisemitismus in den kommunistischen Staaten: „Alle Juden im diplomatischen Dienst sollten nach Prag zurück, damit die Kommunisten sie dort wie Slansky vor Gericht stellen und hinrichten konnten.“

Biller hat seine Prosa, insbesondere im Vergleich zu seinem 2016 veröffentlichten, nur zum Teil gelungenen Großwerk „Biografie“, enorm entschlackt; der Adjektiv-Furor aus diesem Buch, die vielen Bindestrich-Formulierungen und Markennamen sind einer angenehm nüchternen, sowieso realistischen Prosa gewichen. Überhaupt hat man einmal mehr den Eindruck, dass dem in Berlin am Zionskirchplatz lebenden Schriftsteller die kurze Form mehr liegt, er kurze Strecken besser beherrscht, mit viel sagenden, ganze Leben beschreibenden Sätzen. Zum Beispiel wenn Dima zu seinem Neffen sagt: „Wenn du erwachsen wirst, wirst du verstehen, dass das Leben daraus besteht, immer nur das Gegenteil von dem zu tun, was man möchte.“

Was jedoch ist nun mit der Exekution des Großvaters? Wer hat ihn verraten? Stimmt es, dass Biller, wie er von sich sagt, wie er es angeblich in einer Talkshow einmal zum besten gab, einfach keine Familiengeheimnisse mag? Wird das Geheimnis wirklich gelüftet, und ist das eigentlich überhaupt für diesen schönen, trickreichen und gelungenen Roman von Bedeutung? Biller erzählt und erzählt, verweist im letzten, bezeichnenderweise mit „Eine reine Familiensache“ überschriebenen Kapitel aber lieber auf seine Schwester. Diese wird beim NDR nach dem 1960 hingerichteten Großvater gefragt und schildert dann, „wie es wirklich gewesen war“.

Ein wunderbares Ende - und ein schöner geschwisterlicher Schulterschluss. Maxim Biller lädt mit seinem eigenen Roman dazu ein, doch bitteschön Lappins in Deutschland wenig beachtete Buch zu lesen, gewissermaßen als spiegelbildliche Ergänzung zu „Sechs Koffer“. Nur sollte man nicht glauben, dass Elena Lappin darin tatsächlich erschöpfend erzählt, was mit dem Großvater passiert ist.

Maxim Biller: Sechs Koffer. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 200 Seiten., 19 €.

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