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Szenisch reiches Gewusel. Linda Pöppel, Birgit Unterweger, Bea Brocks, Ruth Reinecke, Peter René Lüdicke und Manuel Harder bewohnen Sebastian Hartmanns Inszenierung.

© Arno Declair

Sebastian Hartmanns "Der Idiot": Rasante Dostojewski-Premiere am Berliner DT

Szenenapplaus wie beim Rockkonzert: Sebastian Hartmanns Inszenierung von Dostojewskis „Der Idiot“ im Deutschen Theater.

Irgendwann, zu bereits deutlich vorgerückter Stunde an diesem insgesamt 270-minütigen Abend, steht der Schauspieler Niklas Wetzel an der Rampe des Berliner Deutschen Theaters und referiert die Plotline von Fjodor Dostojewskis Neunhundert-Seiten-Wälzer „Der Idiot“.

Mit rasanter Steigerungsdramaturgie erzählt er die kanonische Story, wie Fürst Myschkin nach langem Aufenthalt in einer Schweizer Heilanstalt nach Russland zurückkehrt und im Zugabteil den Kaufmann Rogoschin trifft, mit dem er später um die schöne, von ihrem Pflegevater missbrauchte Nastassja Filippowna konkurriert.

Stakkato in Wörtern und Bildern

Schneller und schneller plaudert sich Wetzel voran, im Stakkato-Takt von Tilo Baumgärtels Animationen auf diversen Leinwänden. Er redet sich in Rage, slapstickt neben der Generalstochter Aglaja, der zweiten großen Frauenfigur im Fürstenleben, all die Heiratspläne und -anträge, die Aufschübe, Erbschleichereien und Salonplaudereien herbei, die im „Idioten“ vorkommen.

Großes Hallo im Publikum, als er schließlich, in endgültiger Höchstgeschwindigkeit, am Totenbett der von Rogoschin erstochenen Nastassja Filippowna angelangt ist: Derartige Stimmung herrschte lange nicht in einem Berliner Theatersaal; Wetzel tritt mit rockkonzertverdächtigem Szenenapplaus von dieser Nummer ab.

Was der Schauspieler hier abliefert, ist freilich, en miniature, so etwas wie die bewusste Antithese zu Sebastian Hartmanns Inszenierung: All die äußeren Umstände, die schnöde Narration, die, reduziert auf die Storyline, nach wenig mehr als einer schrägen Symbiose aus Seifenoper und Räuberpistole klingt – das sind genau die Dinge, die den Regisseur nicht interessieren.

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Hartmann hat ja über die letzten Jahre hinweg – häufig mit Dostojewski- und Tolstoi-Roman-Stoffen, aber auch mit der zum jüngsten Berliner Theatertreffen eingeladenen Thomas-Mann-Arbeit „Der Zauberberg“ – eine Theaterform geschaffen, in der die Schauspielerinnen und Schauspieler die Werke nicht erzählen oder illustrieren, sondern auf offener Bühne praktisch bewohnen. Es ist dabei fürs Publikum von Vorteil (aber durchaus nicht Bedingung), sich in ihnen ebenfalls einigermaßen auszukennen.

Das Ensemble hält sich nicht mit Äußerlichkeiten auf

Denn mit Äußerlichkeiten hält sich ein Hartmann-Ensemble ebenso wenig auf wie mit Figurenzuordnungen. An den Handlungskrücken geht es direkt ins Innere, zur Essenz, sprich, den letzten, großen (und häufig monologisch behandelten) Dingen: Dasein und Endlichkeit, Liebe und Existenz, Geburt und Tod, all diesen hochtrabenden philosophischen Vokabeln eben, die gleichzeitig über eine zutiefst banal-konkrete Alltagsdimension verfügen. Regelmäßige Theatergänger wissen, wie selten es gelingt, das auszubalancieren; gern versackt der entsprechende Versuch in schwer erträglichem Existenzraunen.

Hartmanns „Idiot“ raunt nicht. Er entfaltet seine angewandte Existenzphilosophie aus einem speziellen Romanmotiv – dem für Dostojewski, der selbst einmal in letzter Sekunde doch nicht hingerichtet wurde, autobiografischen Exekutionstopos. So gesehen ließe sich der Abend als finales Kopfkino im Angesicht des Todes beschreiben. Viereinhalb Stunden über die letzte Viertelsekunde, bevor das Fallbeil niedergeht.

Haben Sie meine Frau gesehen?

Darin enthalten: Auf zwei Sätze zusammengeschnurrte Lebenssinnsuchen, wie Peter René Lüdicke sie formuliert: „Haben Sie meine Frau gesehen? Sie ist gestorben, aber nicht tot.“ Aber auch: Opulenter Assoziations- und Videorausch in der grandiosen Bildregie von Voxi Bärenklau. Permanente Deutungsüberschüsse. Ein Theater, das endlich mal wieder nicht alles erklärt, was man sieht.

Später: Minutenlange kollektive Pistolenschuss-Choreografien. Gelächter in einem der beiden Tipis, die auf der vom Regisseur selbst entworfenen Bühne eine knallrote Fassade säumen. Dann wieder Dialoge, die so, wie Birgit Unterweger und Manuel Harder sie spielen, in Viertelsekunden ganze Beziehungsdilemmata auffächern, das universelle Wohl- und Wehe-Programm zwischen Subjekt und Subjekt.

[Nächste Vorstellungen am 10., 14. und 17. November]

Besonders bemerkenswert: Hartmann und das durchweg in Bestform agierende DT-Ensemble kontern die Existenzialismen immer wieder mit einer Kulturtechnik aus, die im echten Leben genauso hilfreich ist wie im Theater mit Daseinsanspruch: Witz und (Selbst-)Ironie.

In einer Szene hängt Linda Pöppel – nackt und blutüberströmt – wie eine Seilakrobatin vom Schnürboden und reflektiert grundsätzlich über alles, im Besonderen aber über den Preis des berühmten naiven – im Sinne von unverstellten – Myschkin’schen Weltzugangs.

Ihr Kollege tänzelt nackt umher

Als sie anschließend am Boden liegt, tänzelt ihr Kollege Elias Arens, ebenfalls nackt, erst mit hochnotkomischen Ballettchoreografien gegen die Erdenschwere an – um sich später behutsam zu ihr zu legen. Dass Pöppel später in eine Plastikfolie gewickelt wird, wo sie die nächsten langen Minuten während einer Szene zwischen Arens und Harder zubringt, führt zu einem schönen theaterinternen Diskursbeitrag.

Die Schauspielerin Ruth Reinecke betritt die Bühne, um die Szene primär freundlich, aber sekundär ziemlich unerbittlich mit dem Hinweis zu unterbrechen: „Linda friert“. Immense Geschäftigkeit setzt ein, es entfaltet sich ein szenisch reiches Gewusel um die eingewickelte und beharrlich schweigende Kollegin, während Arens nackt und allein an der Rampe hocken bleibt und Birgit Unterweger infolge der Klamottenabsenz immer mal wieder kurz mit der Ohnmacht kämpft.

Und schon sind wir mittendrin in der theatralen Repräsentationsdebatte, die ja prinzipiell eine treue Begleiterin der Bühnenkunst ist, aber in den letzten Jahren unter identitätspolitischen Gesichtspunkten besondere Fahrt aufgenommen hat. Auch das also zeigt dieser Abend: Dass sich (Selbst-)Ironie auch bei Fragen wie der lohnt, wer für wen leiden und wer sich unter wessen Regie (nicht) ausziehen darf.

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