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Frauen stehen auf, in Aldermans Roman und im wahren Leben. Hier ein Bild vom Women's March in Washington 2017.

© REUTERS/Shannon Stapleton

Science-Fiction-Roman „Die Gabe“: Wenn Männer Angst haben müssen

Über Macht und Machtmissbrauch: In Naomi Aldermans feministischem Science-Fiction-Roman „Die Gabe“ sind Frauen den Männern plötzlich körperlich überlegen.

Margaret Atwood sagte einst: „Männer haben Angst, dass Frauen sie auslachen. Frauen haben Angst, dass Männer sie umbringen.“ Das Gefühl der Angst vor Gewalt gehört zum Leben der meisten Frauen dazu, das hat auch die MeToo-Bewegung deutlich gemacht. Die Angst, nachts alleine nach Hause zu laufen. Die Angst, dass ein „Nein“ nicht akzeptiert wird. Manchmal sogar die Angst vor dem eigenen Partner, Vater oder Vorgesetzten. Jede dritte Frau in Deutschland hat bereits körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren – fast immer von Männern.

Was würde passieren, wenn sich dieses Verhältnis umdreht? Wenn Frauen die körperlich Überlegenen wären und Männer diejenigen, die Angst haben müssen? Dieser Frage geht die britische Autorin Naomi Alderman in ihrem Science-Fiction-Roman „Die Gabe“ nach, den sie ihrer Freundin und Mentorin Margaret Atwood gewidmet hat. Die Ausgangssituation ihrer Geschichte, die in der heutigen Zeit beginnt, ist so einfach wie radikal: Weltweit entwickeln Teenagerinnen einen muskelartigen Strang, der entlang ihres Schlüsselbeins verläuft. Der Strang produziert Elektrizität – ähnlich wie bei Zitteraalen – und ermöglicht es, durch die Hände Stromschläge abzugeben. Damit können die jungen Frauen anderen Menschen große Schmerzen zufügen und sie sogar töten. Sie können diese Fähigkeit an ältere Frauen übertragen, weibliche Babys werden ab sofort mit dem Strang geboren. So beginnt ein neues Zeitalter, in dem Frauen das stärkere Geschlecht sind.

Frauen sind nicht gutmütiger als Männer

Aus der Sicht von vier Figuren schildert Alderman über den Zeitraum von einem Jahrzehnt die Umstürze, zu denen die Entdeckung der Gabe führt. Da sind: Roxy, die Tochter eines Londoner Drogenbarons, deren Gabe außergewöhnlich stark ist; das Waisenkind Allie, das als „Mother Eve“ eine weiblich geprägte Religion begründet; die ambitionierte Politikerin Margot, die ihre Kraft zunächst verstecken muss und der nigerianische Jungjournalist Tunde, der als Erster ein Video der Gabe online veröffentlicht. Tunde ist auch live dabei, als Frauen in Saudi-Arabien die Revolution ausrufen und Zwangsprostituierte in Moldau Rache an ihren Peinigern nehmen. Seine Stimmung ist zunächst so euphorisch wie die der Frauen, bis er nach und nach realisieren muss, dass er sich als Mann nicht mehr überall sicher bewegen kann. Mit drastischen Darstellungen von Gewalt macht Alderman deutlich, dass Frauen nicht essenziell sanfter und gutmütiger sind als Männer. Wer Macht hat, missbraucht sie, so die düstere Botschaft ihres Buches.

Naomi Aldermans großes Vorbild ist die feministische Schriftstellerin Margaret Atwood.
Naomi Aldermans großes Vorbild ist die feministische Schriftstellerin Margaret Atwood.

© Justine Stoddard

„Die Gabe“ ist Aldermans vierter Roman. Er gewann den britischen Women’s Prize for Fiction, die „New York Times“ wählte ihn zu einem der zehn besten Romane 2017, und Barack Obama schrieb ihn ganz oben auf seine Liste mit Leseempfehlungen. Eine Adaption des Buches als TV-Serie ist in Planung und dürfte ähnlich einschlagen wie die Verfilmung von Atwoods „Report der Magd“. Wie Atwood geht es auch Alderman in ihrem Roman, der im Englischen den aussagekräftigeren Titel „The Power“ trägt, vor allem darum zu beschreiben, wie Machtstrukturen entstehen und sich verfestigen, bis eine Gesellschaft sie als naturgegeben hinnimmt.

Kommentar zur Gegenwart

Alderman rahmt ihre Geschichte mit einem Briefwechsel, der mehrere Jahrtausende nach der Entdeckung der Kraft stattfindet. Ein junger Schriftsteller schickt seiner etablierten Kollegin das Manuskript eines historischen Romans, den er geschrieben hat: „Die Gabe“. Inzwischen hat sich die körperliche Überlegenheit von Frauen in gesellschaftliche Macht umgewandelt, mit allen klischeehaften Vorstellungen, die dazugehören. „Mein Gefühl sagt mir – und deines dir hoffentlich auch –, dass eine von Männern geführte Welt freundlicher wäre, netter, liebevoller und fürsorglicher“, schreibt die Autorin ihrem Kollegen und erläutert ihm daraufhin in latent herablassendem Tonfall die Evolutionsgeschichte. Männer seien doch immer die Bewahrer des Hauses gewesen, während Frauen, um ihre Kinder zu schützen, aggressiver und gewalttätiger sein mussten. Männliche Soldaten, wie er sie in seinem Manuskript erwähnt, seien deshalb unglaubwürdig und riefen in ihr höchstens sexuelle Fantasien hervor.

Wie jedes gute Science-Fiction-Werk ist „Die Gabe“ weniger Zukunftsvision als Kommentar der Gegenwart. Indem Alderman den Status quo kurzerhand umdreht, macht sie seine Absurdität deutlich. Männlichen Lesern könnte die Lektüre eröffnen, wie es ist, mit der Angst vor Gewalt durch das andere Geschlecht zu leben.

Naomi Alderman: Die Gabe. Roman. Aus dem Englischen von Sabine Thiele. Heyne Verlag, München 2018. 480 Seiten, 16,99 €.

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