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Schweizer Gedenktag: Die Kinder an Bauern als Sklaven vermittelt

Die Schweiz will sich an diesem Donnerstag erstmals für das schwere Unrecht an den so genannten Verdingkindern entschuldigen. Die Behörden hatten sie über Jahrzehnte aus ihren Familien gerissen und an Bauern vermittelt – als Sklaven.

Dort, wo die Idylle am vollkommensten ist, geschehen die schlimmsten Verbrechen. Den Satz hatte Hugo Zingg Stunden zuvor nahezu beiläufig gesagt, lange vor der Fahrt ins Berner Oberland. Er hatte nicht von sich gesprochen, sondern ganz allgemein von den Klöstern und Dorfschulen, von angesehenen Bürgern, frommen Priestern und Beamten, die nicht wahrnehmen, was sie anrichten. Hugo Zingg hatte nicht diesen oder jenen im Besonderen gemeint, sondern die Schweiz im Allgemeinen. Es verriet eine nicht eben freundliche Sicht auf seine Heimat.

Jetzt steht er am Rand eines schmalen Weges, es ist kalt, ein klarer, sonniger Märztag, im Hintergrund erheben sich die schneebedeckten Gipfel von Eiger, Mönch und Jungfrau, im Vordergrund windet sich der Thunersee um eine Bergkette. „Ein wunderbares Panorama“, sagt Zingg träumerisch. Es gibt Momente wie diesen, in denen er schwärmen kann. Der Mensch lebt eben weiter. Er lebt auch gerne. Und mit Stolz auf sein Land, trotz allem. Dieses Panorama, sagt der 77-Jährige, und nun klingt es, als ginge es um ein Problem, „das habe ich damals nicht gesehen“.

In der Stille, die sich nach dieser Erkenntnis auftut, weil Zingg sie erst mal nicht weiter erläutert, schwingt ein Ton nach, der nicht zur festen Stimme dieses Mannes passt. Schon bei der Einkehr im Dorfgasthof Bären hatte sich ein leichtes Zittern der Finger gezeigt, als er das Glas hielt. Dabei hatte Zingg ohne Zögern eingewilligt, in den kleinen Ort nahe der Stadt Thun aufzubrechen. Er wollte zeigen, wo das Verbrechen geschah.

Das Verbrechen hat im Strafgesetzbuch keinen Namen, keinen Paragrafen. Zingg formuliert es so: „Man hat mir meine Kindheit genommen. Man hat mir mein Recht genommen, ein Mensch zu sein.“ Zingg ist ein sogenanntes Verdingkind, er begann es vor 71 Jahren zu sein. Jetzt will er, dass seine Mitmenschen es endlich sehen, dass sie ihn sehen, ihn in seiner Not.

Am heutigen 11. April wird die Regierung der Schweiz erstmals der Verdingkinder gedenken, nach Jahrzehnten, in denen man ihre Existenz offiziell lieber verschwieg. Zingg erwartet ein Bekenntnis „dass es eine Schande war, was da passiert ist“. Und er erwartet zudem ein Wort der Entschuldigung. Eine Entschuldigung, „würde den verstorbenen und noch lebenden Verdingkindern ihre Würde zurückgeben“, schreibt eine ebenfalls Betroffene, Elisabeth Wenger, in dem Buch „Versorgt und vergessen“. Dass in Verdingkind das Wörtchen „Ding“ steckt, ist eine böse, tiefere Wahrheit.

Hugo Zingg war sechs Jahre alt, da haben Mitarbeiter des Fürsorgeamtes in Bern ihn und seine fünf Geschwister seinen Eltern weggenommen. Die Kinder wurden getrennt. Hugo Zingg geriet in das Dorf im Berner Oberland, er bittet darum, den Namen zu verschweigen, auf den Ort komme es nicht an. Er wurde einer Bauernfamilie übergeben. Acht Jahre blieb er, acht Jahre erlebte er ein Martyrium.

In den Unterlagen der Schweizer Behörden werden sie Fremdplatzierte genannt. Bis 1978 hatten Sozialämter die Möglichkeit, Kinder ohne Einwilligung der Eltern aus der Familie zu nehmen und in Heime oder Pflegefamilien zu geben. Für den Entzug der Kinder reichte es manchmal aus, dass die Familie sich ans Fürsorgeamt wandte und um Hilfe nachsuchte. Oder dass eine Frau alleinerziehend war.

Wie viele Kinder von dieser Praxis betroffen waren, ist nicht bekannt. Der Historiker Marco Leuenberger hat für das Jahr 1930 rund 35 000 Verdingkinder ermittelt. Er geht aber davon aus, dass die Zahl doppelt so hoch lag, weil längst nicht alle Verdingkinder registriert waren. Allein zwischen 1920 und 1970 sollen mehr als 100 000 Kinder in andere Familien oder Heime gebracht worden sein. Bis in die 30er Jahre hinein wurden Kinder auf lokalen Märkten regelrecht an Landwirte versteigert. Der Bauer, der am wenigsten Kostgeld vom Staat verlangte, bekam den Zuschlag. Ein früher Fall von Outsourcing. Der Staat sparte Geld, der Landwirt bekam eine billige Arbeitskraft, von dem Geschäft profitierten beide.

Die Menschen schauten einfach weg - und sie tun es immer noch

Hugo Zingg musste in seinem neuen Heim von Anfang an mit anpacken: Stall ausmisten, Kühe füttern, Milch wegbringen, Holz holen, bei der Ernte helfen, den Boden schrubben. In all den Jahren habe er seinen amtlichen Vormund nur zwei- oder dreimal gesehen, sagt er. Der Mann habe sich zwei Tage zuvor angemeldet, die Bäuerin sorgte dafür, dass Hugo nicht zu Hause war. Der Beamte ließ sich auftischen und ein Gemüsepaket für zu Hause packen, dann vermerkte er in seinem Bericht, dass es dem kleinen Hugo gut gehe.

Was er nicht sah: die Narben an Hand, Arm und Oberkörper, die Hugo Zingg bis heute zeichnen. Die Bäuerin habe oft den ledernen Uniformgürtel ihres Mannes ergriffen, sagt Zingg. „Wenn eine Tür quietschte, gab es Schläge. Wenn die Kuh keine Milch gab, setzte es Schläge. Wenn der Hund etwas umwarf, wieder Schläge.“ Er nennt sie einen Teufel.

Die Gemeinden haben die meisten Akten vernichtet, mit denen man das Schicksal der Verdingkinder rekonstruieren könnte. Sie gingen verloren oder werden weiter unter Verschluss gehalten. Noch 1991 beschied die Stadt Neuenburg einer Frau, man habe die Jugendamtsakten vernichtet, um die betroffenen Personen nicht mit ihrer Geschichte zu belasten. Mit der Folge, dass viele Opfer dieses pragmatischen Schweizer Landverschickungssystems ihre Eltern nicht kennen, nicht von möglichen Geschwistern wissen. Nach Recherchen des Betroffenen-Netzwerks sind zwischen 6000 und 10 000 Kinder nicht mehr auffindbar, meist weil ein Bauer die Kinder an den nächsten weitergereicht hat.

„Dort unten liegt der Hof.“ Zingg zeigt zuerst den Hügel hinunter, dann wandert der Finger weiter Richtung Käserei zu der Wegkreuzung, wohin er als Jugendlicher täglich bis zu 40 Liter Milch tragen musste, damit der Milchwagen sie einsammelte. „Und dort, das kleine Wäldchen, das war mein Lieblingsplatz. Dort habe ich auf dem Heimweg von der Schule mit den Tieren gesprochen.“ Sonst habe ja niemand mit ihm geredet, niemand habe ihm zugehört. „Ich war ja völlig isoliert.“ Für einen Moment lässt er sich auf seine Erinnerung ein, die ihn wegführt von diesem Moment. Dann kehrt er mit einem Ruck zurück. „Deshalb stehen mir Tiere näher.“

Er geht nicht mehr hin zu dem Hof. Der jetzige Bauer hat ihm mit einer Anzeige gedroht, sollte er das Grundstück betreten. Dabei hat der Mann, der in die Familie eingeheiratet hat, mit der Verdingkinderpraxis nichts zu tun. Aber das schlechte Gewissen ist stärker. Und es ist offenbar weiter verbreitet. Zingg sagt: „Der im Bären eben, am Nachbartisch, das war ein Klassenkamerad.“ Sie haben sich nicht gegrüßt, kein Wort gewechselt.

Beim Wiedersehen bricht die Mutter weinend zusammen

Ein Ökonom der Schweizer Großbank UBS hat im Auftrag des Netzwerks ausgerechnet, dass die Verdingkinder im 19. und 20. Jahrhundert zwischen 20 und 65 Milliarden Franken an unbezahlter Arbeit in der Landwirtschaft geleistet haben. Zu den größten Nutznießern gehörten vielfach jene Klöster, die Kinderheime betrieben und mit den Kindern große Flächen bewirtschafteten. Die Schweiz litt mehr als andere Länder darunter, dass die einstigen Dienstboten und Knechte in die Industrie wechselten und damit in der Landwirtschaft Arbeitskräfte fehlten.

Zingg führt zur Schule, die zu einem Wohnhaus umgebaut worden ist. Nebenan lebte einst der Lehrer. In der ersten Stunde schickte er sommers regelmäßig zwei Schüler in den Wald, damit sie Haselnussruten schnitten, mit denen sie später gezüchtigt wurden. Die Fehlzeiten des kleinen Hugo hat der ansonsten peinlich auf Ordnung bedachte Lehrer nie im Zeugnis notiert. Nicht bei einem Verdingkind. Es hätte ja sein können, dass jemand nachfragt. Warum ist der nicht da? Zinggs Wissen um das Unrecht, es wurde, so kam es ihm vor, von den anderen geteilt. „Der Lehrer, der Pfarrer, sie haben es ja alle gesehen, aber keiner hat etwas gesagt.“ Als er konfirmiert wurde, feierte die Familie in einem Gasthaus, während Hugo allein zu Hause saß, für ihn war Sauerkraut mit Kartoffelpüree vorbereitet worden.

Hugo Zingg ist 23, da erfährt er, dass seine Eltern leben. Er besucht sie, die Mutter bricht in Weinkrämpfe aus. Der Vater geht ins Nebenzimmer, schließt die Tür hinter sich und schreit Verwünschungen gegen das Jugendamt aus. Sie können kaum miteinander reden. Eine Woche später erzählt ihm die Mutter, dass er fünf Geschwister habe und was passiert sei. Dass das Jugendamt ihnen alle Kinder weggenommen und nie ein Wort gesagt habe, was mit ihnen geschehen ist. Später findet Zingg heraus, dass zwei Geschwister insgeheim zur Adoption freigegeben wurden, er kennt sie bis heute nicht. Einen Bruder und eine Schwester stöbert er auf. Aber Hugo Zingg hat nie gelernt, positive, gar geschwisterliche Gefühle zu entwickeln. Noch heute empört er sich über die Dreistigkeit, dass die Behörden der Stadt Bern ihm nach dem Tod seines Vaters eine Rechnung für die Bestattungskosten geschickt haben. „Ich hatte ja nicht gelernt, dass ich auch Rechte habe.“ In der Schule habe er stets hören müssen: „Du bisch nüt, du chasch nüt, du wirsch nüt.“ Das habe ihn geprägt. Ducken, sich kleinmachen, immer hinten anstehen.

Erst vor wenigen Jahren hat sich ein weiterer Bruder bei ihm gemeldet. Er war bei einem kinderlosen Bauernpaar, das ihn sehr gut aufgenommen und ihm zuletzt sogar den Hof vererbt hat. So etwas gab es, aber es war wohl die Ausnahme. Im März wurde im Emmental ein Bauer festgenommen, der über Jahre ein Verdingmädchen missbraucht haben soll.

Die Selbsttötungsrate unter den Verdingkindern ist überdurchschnittlich hoch. Hugo Zingg hat viele Jahre sein Leid nur ertragen.

Bei sich zu Hause zieht Hugo Zingg ein Foto aus einer Klarsichtfolie, schwarzweiß, leicht vergilbt und unscharf. Es zeigt eine achtköpfige Gruppe Menschen neben einem Wagen, ein Pferd steht dabei. Sie machen wohl gerade Pause von der Feldarbeit. Ein unbekannter Wanderer hat es vor 70 Jahren aufgenommen, es fiel Zingg in die Hände. Ein ländliches Idyll. Rechts vorne sitzt ein kleiner Junge auf dem Boden, er wirkt nicht unzufrieden, Hugo Zingg. Ganz rechts steht ein Junge von etwa 15 oder 16 Jahren, mit bloßem Oberkörper.

„Das ist Fritz“, sagt Hugo Zingg. Fritz Zwahlen war erst Verdingbub, dann Knecht auf dem Hof. Hugo und Fritz teilten sich ein Strohlager, Hugo war zu jener Zeit Bettnässer, weiter geht er nicht in die Details. Mit 21 Jahren, in der Silvesternacht, nahm Fritz sich das Leben. Erschoss sich. Man fand ihn am Neujahrstag im Wald. Am nächsten Tag musste Hugo bei Minusgraden in einem Zuber auf dem Hof das Blut aus den Kleidern von Fritz schrubben.

Franz Schmider

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