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Sehnsuchtsort debattenmüder deutscher Schriftsteller. Wien, hier der Stephansdom.

© imago images/Alex Halada

Schriftsteller flüchtet aus Deutschland: Matthias Politycki verkündet Abgang – wegen „Wokeness“

Matthias Politycki beklagt in der FAZ die "Pervertierung linken Denkens". Seine Antwort: Er wandert wie Kollege Joachim Lottmann nach Wien aus. Eine Glosse.

Eine Glosse von Gerrit Bartels

Warum der Schriftsteller Joachim Lottmann seinerzeit von Berlin nach Wien floh, Ende der nuller Jahre, ist nie recht bekannt geworden. Mal hieß es, Probleme mit dem Finanzamt seien der Grund gewesen, mal war von Liebesflucht die Rede.

Dann erzählte Lottmann in seinem ersten Wiener Roman „100 Tage Alkohol“, wie sein Held, der zufällig auch Joachim Lottmann heißt, in Berlin wegen sexueller Belästigung von einer Kollegin mit dem beziehungsreichen Namen Groupie angezeigt wurde und sich danach auf den Weg nach Wien gemacht hatte.

Im Fall von Lottmanns Schriftstellerkollegen Matthias Politycki, der jetzt von Hamburg nach Wien übergesiedelt ist, scheint der Grund klar benannt worden zu sein. Es war die gendergerechte Sprache, die ihn in die Flucht getrieben hat.

So schrieb es Politycki jedenfalls neulich in einem Text für die „FAZ“. Und da war noch viel mehr. Eigentlich ist das gesamte gesellschaftspolitische Klima ausschlaggebend gewesen: „Was inzwischen, zusammengefasst unter dem Begriff Wokeness, unseren gesellschaftlichen Diskurs dominiert, ist für mich nichts weniger als Pervertierung linken Denkens. Es ist die Herrschaftsform einer Minderheit, die sich anmaßt, gegen den Willen der Mehrheitsgesellschaft die Welt nach ihrem Bilde neu zu schaffen.“

In Wien, hat Politycki ebenfalls bekannt gegeben, sei gleich alles besser geworden. „Die Lust an der Sprache“ ist zurück. Warum? Weil die Uhren hier anders ticken würden, man in Österreich immer fünfzig Jahre hinterher hinke, wegen der Wiener Wurschtigkeit, des Wiener Wortwitzes. Wie man das wohl in Wien findet?

Martin R. Dean hielt die Gegenrede

Warum der 66 Jahre alte Schriftsteller sein Leiden an Deutschland so schön feuilletonwirksam ausbreitet, steht wiederum auf einem anderen Blatt. Früher war Politycki mal ein debattenfreudiger, schneidiger und viel beachteter Romanschriftsteller („Weiberroman“, „Ein Mann von vierzig Jahren“) und Lyriker, der eine Repolitisierung der Literatur forderte und sich für einen „relevanten Realismus“ einsetzte.

Heute muss er sich mühen, dass sich Kritik und Publikum für seine Bücher interessieren und sie vorn in den Regalen der Buchhandlungen zu finden sind. Ein mit ordentlichem Aplomb erklärter „Abschied aus Deutschland“ kann diesbezüglich nur förderlich sein, auch wenn das Emigrationsziel gerade einmal Wien ist und man Sprachkritik ja auch von Salzgitter aus üben kann.

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Zumal Polityckis Schweizer Kollege, Freund und einstiger „Relevanter Realismus“-Mitstreiter Martin R. Dean ihm am Dienstag in der „FAZ“ mit einem langen Beitrag widersprochen und erklärt hat, „warum eine minderheitenbewusste Sprache der Literatur nützt“.

So sieht es nun zumindest nach einer ordentlichen Debatte aus, nicht nach Sommerlochfüllsel oder einem einseitigen Schrei nach Liebe und Aufmerksamkeit. Ob Politycki aber auch mit seinem nächsten Roman in den Spuren Lottmanns wandelt, Arbeitstitel „Leben war heute“? Lottmanns jüngster Roman heißt „Sterben war gestern“ und lässt sich auch als Kritik an den Debatten in Deutschland lesen.

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