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Kampf um Erinnerung. Rechtsextreme der ONR gedenken in Krakau dem Warschauer Aufstand, 2016.

© Jakub Kaminski/dpa

Schriftsteller berichten aus aller Welt: Vom Siegeszug der Rechten in Polen bis zur Krise der BBC

Das Literarische Colloquium Berlin startet ein Netzprojekt, in dem Schriftsteller zu Reportern werden. Eine Auswahl der Texte.

LCB diplomatique: So nennt sich das „alternative Nachrichtenportal“ des Literarischen Colloquiums Berlin am Wannsee. Die Reporterinnen und Reporter aus aller Welt, Schriftsteller oder dem literarischen Leben anderweitig verbunden, folgen dabei keinen Vorgaben – wobei es immer das scheinbar Nebensächliche ist, das ein Licht auf die gesellschaftlichen Hauptsachen wirft. Wir haben drei Texte von verschiedenen Autoren versammelt.

Bei LCB diplomatique erscheinen sie jeweils montags, und zwar in ihrer jeweiligen Ausgangssprache sowie in deutscher und englischer Übersetzung auf lcb.de/diplomatique und Instagram.

Am Mittwoch, den 20.11., wird im LCB um 19.30 Uhr der Auftakt des vom Auswärtigen Amt geförderten Projekts gefeiert. Kate Connolly, die Berlin-Korrespondentin des „Guardian“ und des „Observer“, der brasilianische Autor João Paulo Cuenca, die politische Rundfunkjournalistin Christine Hamel und die polnische Reporterin Malgorzata Rejmer diskutieren darüber, was Autorinnen und Autoren mit ihrer spezifischen Sicht zur politischen Berichterstattung beitragen können. Der Abend beginnt mit einem Vortrag des polnischen Autors und Malers Jacek Dehnel.

Jacek Dehnel: Der Kampf um Erinnerung in Polen

Jacek Dehnel wurde 1980 in Danzig geboren, zuletzt erschien bei dtv der Roman „Saturn“. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.

Unsere Wohnung hat zwei Balkone: an der Vorderfront einen hellen und hinten, zum Hof hin, einen schattigen, wo wenig wachsen will. Hier pflanze ich im späten Frühjahr verschiedene Arten von Basilikum und Minze und komme dann jeden Tag, um sie zu gießen.

Den Hof teilen wir uns mit einer Schule; und das, was weiter hinten zu sehen ist, über den grünen Blättern der Kräuter, ist ein Graffito – wenn ich also meine Minze und mein Basilikum betrachte, muss ich auch auf das Graffito schauen.

Farbkontraste. Grüne Minze und die Farben der Rechten.
Farbkontraste. Grüne Minze und die Farben der Rechten.

© Jacek Dehnel

Wer in Polen lebt, erkennt diesen Stil sofort: Schwarz, Rot und Weiß verbindet man mit dem von der Rechten und den Neofaschisten propagierten Kult der „Verstoßenen Soldaten“, das heißt, dem nach dem Zweiten Weltkrieg agierenden antikommunistischen Untergrund. Mit diesem Begriff bezeichnet man sowohl die aus der Kriegszeit übrig gebliebenen Partisanen als auch gewöhnliche Banditen, die ethnische Säuberungen durchführen.

Ihr Ziel ist, die Erinnerung an den großen, legalen und politisch gemäßigten Untergrundstaat durch einen Kult ultrarechter Bandenführer zu ersetzen, die sich selbst ermächtigt haben, über Leben und Tod zu entscheiden. Das Graffito ist jedoch – bei seiner ganzen Hässlichkeit und Unbeholfenheit – den „stillen Dunklen“ gewidmet, das heißt den Fallschirmjägern der Heimatarmee, die dem Untergrundstaat unterstellt war.

Anfangs war das Graffito mit „Schwarze Ratten“ und „Verrückte vom Technikum“ unterzeichnet. Erstere gehören zu einer kleinen neofaschistischen Organisation, die sich rühmt, ihre Vorbilder seien Mussolini und Putin, Letztere zu einer Gruppe von Helfern, hiesigen Schülern, die bisher Keltenkreuze an die Häuser der Umgebung geschmiert hatten.

Kein Wunder, dass wir beschlossen, die Lehrer zu alarmieren, um zu klären, wer das Graffito mit ihrer Erlaubnis an die Mauer gemalt hatte; als wir den anderen Teil des Gebäudes betraten, sahen wir auch den zweiten Teil der Wandmalerei: Es war ein Bolschewik mit einem blau geschlagenen Auge und einer großen jüdischen Nase, wie direkt einer Karikatur aus dem „Stürmer“ entnommen.

Die Direktion, frisch eingesetzt von der neuen Bildungsministerin, empfing uns artig und sagte, sie habe sich mit den eingesandten Materialien der faschistischen Organisation vertraut gemacht, aber die Schule habe keinen Einfluss darauf, was die Schüler in ihrer Freizeit machten; und man solle doch die patriotische Idee der jungen Leute wertschätzen, im Übrigen sei das „keine jüdische Nase, sondern nur Ihre Assoziation“.

Letztendlich einigte man sich darauf, dass die Unterschrift – und nach den Feierlichkeiten für die „stillen Dunklen“ das gesamte Graffito – übermalt werden sollten.

Nach vier Jahren geht es dem Graffito hervorragend. Die Bildungsministerin, die eine „Deform der Bildung“ mit katastrophalen Folgen durchgeführt hat, ist heute Abgeordnete im EU-Parlament. Die Minze wächst weiter, sie fühlt sich wohl im Schatten.

Die BBC verrät journalistische Grundwerte

A.L. Kennedy: Die BBC verrät journalistische Grundwerte

A. L. Kennedy wurde 1965 im schottischen Dundee geboren, zuletzt erschien im Hanser Verlag der Roman „Süßer Ernst“. Aus dem Englischen von Tom Zille.

Die Statue von George Orwell steht rechts neben dem Londoner Vorzeigestandort der BBC, Broadcasting House. Einst war Broadcasting House nur ein prachtvoller Art-déco-Tempel für die Kunst, mit einem in Stein gemeißelten lateinischen Sinnspruch, der allen, die durch das Eingangsportal traten, sofort ins Auge fiel. Die Inschrift handelte von den guten Früchten vom guten Baum und vom Frieden, dessen sich die Völker gegenseitig versichern sollten.

Die jüngste, rabiat moderne Erweiterung des Gebäudes umfasst einen Kaffeeverkauf, eine groteske und rätselhafte Reihe von Ortsbezeichnungen in den Bodenplatten – viele von ihnen beziehen sich auf Menschenrechtsverletzungen –, eine düstere unterirdische Kantine, verstreute Studios und mehrere Etagen austauschbarer und ununterscheidbarer Arbeitsplätze.

Die Belegschaft teilt sich schäbige Küchen, unzulängliche Mülleimer, Schreibtische und einen Mangel an Rückzugsraum. Es gibt Mäuse. Insgesamt vermittelt das Gebäude den Eindruck, ein Flughafen aus dem Hinterland sei nach einem schrecklichen Irrtum zur Benutzung requiriert worden. Es kommt wie eine Beleidigung für alle, die im Fernsehen oder Rundfunk arbeiten, daher.

Orwell ist in diesen dystopischen Zeiten beliebter denn je und während des Zweiten Weltkriegs arbeitete der große Mann für die BBC, förderte dort die Künste, plante Debatten, gab Stimmen aus den Kolonien Sendezeit und beleidigte rundheraus die BBC.

Das Zitat von ihm dreht sich darum, einer irregeführten Öffentlichkeit bestürzende Wahrheiten zu verkünden, ein Ziel, das ihm am Herzen lag. Wie so viele unterfinanzierte und dequalifizierte Rundfunksender ist die BBC heute dem Bestürzen ohne Wahrheiten verfallen.

Dystopiker mit Fluppe. Das Zitat stammt aus einem nie benutzten Vorwort zu Orwells Fabel „Farm der Tiere“.
Dystopiker mit Fluppe. Das Zitat stammt aus einem nie benutzten Vorwort zu Orwells Fabel „Farm der Tiere“.

© A.L. Kennedy

Und natürlich führt die Erzeugung endlosen Schreckens das Publikum am Ende in die Irre und versetzt es in eine feindselige, paranoide und angsterfüllte Geisteshaltung.

Unbestreitbare Tatsachen werden als „kontrovers“ verkauft, Gebrüll wird differenzierter Diskussion vorgezogen und Lügen bleiben unangefochten, während der ganze Zirkus immer weitertorkelt. Die ernste Wirklichkeit drängt sich dabei immer seltener hinein.

Viele der unterbezahlten, befristet und ohne Hoffnung auf Rente beschäftigten Angestellten sind entsetzt vom Absturz des BBC-Nachrichtenressorts in Populismus, Sensationslust und minderwertigen Journalismus.

Die Verbindung von Ahnungslosigkeit, Sparmaßnahmen und rechten Gesprächsthemen ist spürbar zerstörerisch und führt zum Verlust der Unterstützung, welche die BBC als Ganzes selbstverständlich von all jenen erhält, die öffentlich finanzierten, unabhängigen Rundfunk schätzen.

Die Grundsätze des Journalismus lösen sich auf

Unterdessen handeln unsere Politik und öffentliche Verwaltung weitgehend ohne Kontrolle durch unseren wichtigsten Rundfunksender und Galionsfiguren der Faschisten bekommen im Interesse der „Ausgewogenheit“ Sendezeit zugesprochen.

Die Wahrheit wird durch Lügen „ausgewogen“, die Wirklichkeit durch Fiktion – und die Grundsätze des Journalismus lösen sich unter dem endlosen Druck von Überbelastung, Sparmaßnahmen, Dilettantismus, Opportunismus und einem kleinen Grundbestand an echter Begeisterung für rechte Ideologien auf.

Plötzlich sieht Orwells Zitat mehr und mehr so aus, als sagte es uns: „Wir behalten uns das Recht vor, Euch zu verletzen und zu schaden und wir nennen es ‚Freiheit‘.“

Die Abschottung der brasilianischen Gesellschaft

Daniel Galera: Die Abschottung der brasilianischen Gesellschaft

Daniel Galera wurde 1979 in São Paulo geboren. Zuletzt erschien bei Suhrkamp der Roman „So enden wir“. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Lea Hübner.

Meine Frau und ich laufen jeden Tag an dieser Ecke in Porto Alegre vorbei, an der einige gut besuchte Imbisslokale angesiedelt sind. Der Platz auf dem Gehweg ist dort hart umkämpft. Menschen, Hunde, Kinderwagen, Kranke, die aus weit entfernten Städten zur Behandlung im Hospital de Clínicas hierherkommen.

Des Öfteren sieht man handgeschriebene Schilder, auf denen die Hundebesitzer angehalten werden, zu verhindern, dass ihre Lieblinge ihr Geschäft im Blumenbeet verrichten. Nun wurde vor ein paar Wochen der Gehweg saniert und dabei sind diese grotesken Gitter errichtet worden.

Anfangs dachten wir, es könnte sich um eine Kunst-Installation handeln, die die Abschottung Brasiliens und seine faschistische Stoßrichtung, der die Gewalt in den Städten zum Vorwand dient, kritisiert. Doch dann dämmerte uns, dass weder Sarkasmus noch ästhetische Ausführungen der Grund für diese Gitter waren. Zum Schutz der Blumen waren sie errichtet worden.

Wir beschwerten uns bei der Stadtverwaltung, aber es wird natürlich nichts passieren. Die Gitter werden bleiben, ganz als sei das etwaige Wasserlassen eines Dackels Rechtfertigung genug für einen solchen Käfig aus eng stehenden, schwarzen, spitzen, in ihrer Übertriebenheit geradezu obszönen Eisenstäben.

Die Gitterstäbe muten an wie ein Denkmal für die Barbarei, die in unserem Land um sich greift, in dem die Bevölkerung einer Regierung Beifall klatscht, die Waffenbesitz propagiert und die Hinrichtung verdächtiger Personen, während die, die das nötige Geld haben, versuchen, sich in mauerbewehrten Wohngebieten zu verschanzen.

Licht, Luft, Lieblosigkeit. Ein Pflanzengrabmal in Porto Alegre.
Licht, Luft, Lieblosigkeit. Ein Pflanzengrabmal in Porto Alegre.

© Daniel Galera

Die Gitterstäbe sind Sinnbild für eine anthropozentrische Sicht auf nichtmenschliche Wesen, für eine Weltanschauung, zu der die von uns selbst verursachte Zerstörung der Umwelt gehört, die uns irgendwann noch das Leben kosten wird. Wer die Gitter angebracht hat, erkennt nicht die Ironie dabei. Auch nicht den eigentlichen Gegenstand – nämlich die Blumen –, die kaum zwischen den Stäben auszumachen sind.

Die Eisengitter haben aber vor allem etwas von einem Grabmal. Und ich persönlich zöge es vor, sie nicht jeden Tag sehen zu müssen, wenn ich dort vorbeikomme, ich fände es schön, wenn sie verschwänden. Die Geisteshaltung, der sie entstammen, kann uns an die finstersten Orte führen.

A.L. Kennedy, Daniel Gera, Jacek Dehnel

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