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Kultur: Schrei der Sphinx

15 Jahre nach Berlin: La Fura dels Baus wagt sich in Brüssel an Enescus grandiose Oper „Oedipe“

Schweig! „Tais-toi!“ Nirgendwo wird das so oft gerufen und gesungen wie in dieser Geschichte. Zuerst will der Vater nicht hören, was es mit seinem neugeborenen Sohn auf sich hat: dass der den Vater töten wird. Dann ist es die Adoptivmutter, die nicht wissen will, was Ödipus, das verstoßene Kind, herausgefunden hat. Schließlich der Titelheld selbst, der trotz allem ahnungslos den Vater erschlagen und mit der eigenen Mutter Kinder gezeugt hat. Als er endlich durchblickt, beschließt er, sich zu blenden. Und wenn ein Akkord fühlen lassen kann, was es heißt, sich die Augen auszustechen, dann hat ihn George Enescu komponiert.

Aus all dem Beschwiegenen rund um die tragischste Menschengestalt der Antike lässt Enescu eine Musik herausbrechen, die über drei Stunden trägt und treibt, eine der großen Opern des 20. Jahrhunderts, komponiert zwischen den Weltkriegen. Von 1921 bis 1931 arbeitete der in Paris geschulte Rumäne an seinem Lebenswerk „Oedipe“. In der Nachglut des 19. Jahrhunderts verschmelzen avancierteste Klangerfindungen; Freudschen Konzepten ist das Werk tiefer verbunden als dem längst fragwürdig gewordenen Inzestkomplex. Nämlich über die Wucht, mit der das Verdrängte wirkt.

Es gibt zu denken, dass gerade „Oedipe“ von den Spielplänen verdrängt ist. Seit der umjubelten Pariser Uraufführung 1936 wurde das Werk nur sieben Mal in Szene gesetzt. Zuletzt vor 15 Jahren an der Deutschen Oper Berlin: Dank des Dirigats von Lawrence Foster konnte man erstaunt gewahren, dass Enescu weit mehr komponiert hat als kurparktaugliche Rhapsodien und dass er nicht nur als Geiger ein Genie war. Dann wurde sein Werk wieder beschwiegen – bis jetzt in Brüssel. Dort hat man sich im (keineswegs reichen) Théâtre de la La Monnaie an „Oedipe“ gewagt.

Der just erfolgten Wahl zum „Opernhaus des Jahres“ wird Intendant Peter de Caluwe allein schon durch dieses weitere Wagnis gerecht. Die Premiere ist rappelvoll. Das Ausgangsbild ist genial. Das Team der katalanischen Gruppe La Fura dels Baus um Àlex Ollé hat ein bühnenfüllendes Relief geschaffen, in der Art spätmittelalterlichen Kathedralenschmucks fachweise sortiert, fünf Etagen, voll mit lehmfarbenen, starren, lebensgroßen Gestalten um das Königspaar mit Baby Oedipus. Und dann beginnt das Relief zu singen: Die thebanischen Frauen, Hirten und Krieger regen sich, der Mythos wird wach. Damit ist ein Problem aller Choropern allerdings nur vorübergehend gelöst, nämlich die Vermittlung zwischen dem Drama und der Statik der Masse. Man kann nicht vier Akte lang Reliefs erwachen lassen, und weil Personenregie nicht zu den Spezialitäten des Fura-Teams zählt, wird der vorzügliche Brüsseler Chor zum Dekor, sobald er frei herumläuft. Der Titelheld aber, Bariton Dietrich Henschel, zeigt den Weg vom fragilen Jüngling zum verzweifelten König mit hoher Intensität. Atemberaubend, wie er die Zeugen zum Schweigen bringen will, die das wissen, was er befürchtet.

Die rasenden Dialoge zeigen auch, wie gut der junge Brite Leo Hussein geprobt hat und wie Enescu selbst in dramatischen Zuspitzungen mehrschichtig bleibt, wenn er ungesagten Irrsinn in einer Klarinette brodeln lässt oder den Schrei der Sphinx mit einer singenden Säge wiederholt – ganz unbefangen wird der klassizistische Firnis der Partitur perforiert. Die Sphinxszene führt aber auch an die Grenzen einer aus Bildern entwickelten Regie. Das blutdurstige, schlaue Fabeltier ist hier ein Sturzkampfflugzeug Ju 87, bewohnt von der hexenhaft aufgetakelten, fantastisch singenden Marie-Nicole Lemieux.

Das macht zwar krassen Effekt, und der Propeller dreht sich schön. Dass das existentielle Ratespiel der Sphinx aber auch ein Kräftemessen zwischen einer Frau und einem Mann ist, der sich dabei selbst (er)findet, hat die Katalanen ebenso wenig interessiert wie das Thema, in dem diese Oper sich mit unserer Zeit trifft: in der Logik der Verdrängung, die von Athen bis Fukushima reicht. Und die Verletzung der Seelen wird in Brüssel an den Gestalten um Ödipus mit eher pflichtschuldig andekorierter Gestik vorgeführt – abgesehen davon, dass an Dietrich Henschel stimmlich nur einige der zwölf Solisten heranreichen.

Dafür aber geht der Abend atmosphärisch auf. Die lehmige Färbung ist ihm nicht nur angemalt. Er hat ein Gelände, eine Gravitation, die Enescus rumänischem Idiom entspricht. Manchmal umranken einen in diesem Brüsseler Theben die Klänge so suggestiv, dass man sie kaum mehr wahrnimmt. Dann wünscht man sich erst recht, dass die nächste Auseinandersetzung mit dieser Oper nicht wieder 15 Jahre auf sich warten lässt.

Infos: www.lamonnaie.be. Ein Mitschnitt der Oper ist am 6.11. um 20 Uhr auf www.musiq3.be zu hören.

Volker Hagedorn

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