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Der Schlagersänger Roland Kaiser.

© Patrick Pleul/dpa

Schlagerkunde: Doch alles, alles kommt zurück

Mit dem deutschen Schlager und Roland Kaiser ist Abschiednehmen ganz einfach - eine poetische Exkursion.

Unter blauem Himmel tut es noch mehr weh. Für die deutsche Nationalmannschaft ist die Fußballweltmeisterschaft vorbei. Aber die Bäume rauschen, als wäre nichts geschehen, die Amseln singen, und man sitzt allein unter Fremden in der S-Bahn, verloren, wie im Licht einer Morgenstunde, die nicht nur das Ende einer Nacht, sondern auch das Ende einer Liebe ankündigt. Lieb mich ein letztes Mal / Es bleibt mir keine andere Wahl / Ich weiß, dass ich die Nacht mit dir an den Tag verlier.

Roland Kaiser, ob bewusst oder unbewusst, knüpft mit diesen Zeilen, gesungen in den 80er Jahren, an die Tradition des Tagelieds an, jenes Rollengedicht, das in der Liebeslyrik des Mittelalters den Abschied eines Mannes, meist Ritters, von seiner Geliebten im Morgengrauen schildert. Das sehnsuchtsvolle Bedauern war Roland Kaisers Liedern lange Zeit eigen. Inzwischen besingt der nach schwerer Krankheit genesene Gentleman des Schlagers lieber den perfekten Augenblick.

Der kann für das Leben ebenso bedeutend sein wie für den Stürmer auf dem Platz. Ob Max Giesinger ((Wir) suchen den Moment, wo alles stimmt), Wincent Weiss (Denn dieser Augenblick kommt nie zurück) oder Andreas Bourani (Ein Hoch auf uns /Auf dieses Leben / Auf den Moment, der immer bleibt): Mehr Hedonismus war nie in der Pop- und Schlagerwelt, dazu hat Jan Böhmermann jedoch schon alles gesagt. Aber nach jedem Hoch kommt bekanntlich ein Tief. Ein Abgesang, der gleichzeitig die Möglichkeit eines Neuanfangs birgt, könnte nach dem Vorrundenaus demnach the next big thing werden. Wir hatten diesen Augenblick / Aber mehr noch hatten wir kein Glück / Doch alles, alles kommt zurück.

Der Text bringt selbst eine Melodie hervor

Wann immer der Moment, der nicht vergehen soll, beschworen wird, lässt das gefürchtete Ende desselben nicht lange auf sich warten. Der Schlager versteht sich seit jeher auf Abschiede aller Art. Auch Udo Jürgens, ein Wanderer zwischen den musikalischen Welten, gemahnte an den großen Abschied von der Zeit. Die Worte dafür lieferte Joachim Fuchsberger: Kindheit, des Lebens zarte Luft, / der Tag, der dich zum Spielen ruft, / wobei oft nur ein Glas zerbricht, mehr weißt du nicht. / Der kleine Zug, der dir gefällt / fährt nur im Kreis, nicht in die Welt. / So klein fängst du dein Leben an / und was kommt dann? Dann kommt der große Abschied von der Zeit...

Selten geschieht es, dass ein deutscher Schlager, gegenständlich und abstrakt zugleich, schon allein auf dem Papier nachhaltige Wirkung entfaltet. Durch bloßes Antippen werden hier Bilder erzeugt, durch Aussparung entsteht Bedeutung, und damit gelingt diesem Text etwas, das sonst oft nur ein Gedicht zu leisten vermag: Er bringt seine Melodie selbst hervor. Bekanntermaßen appelliert der Schlager eher an die ungebrochene Empfindung. Er vermeidet das assoziativ Mäandernde und verlässt sich, trotz mancher Doppeldeutigkeit und schlüpfriger Augenzwinkerei, auf klare Aussagen. Wunder gibt es immer wieder. Schön ist es auf der Welt zu sein. Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben.

Die Männer machen sich bei Carpendale heimlich davon

Diese Weisheit wird man wohl für immer mit dem im Mai verstorbenen Jürgen Marcus in Verbindung bringen. Verabschieden musste sich die deutsche Musikwelt in diesem Jahr aber auch von dem ostdeutschen Liedermacher Holger Biege, der Elemente des Schlagers für seine Lieder zwar zu nutzen wusste, dessen Stil sich jedoch eher einer Mischung aus Soul, Pop und Big-Band-Sound verdankte. Zwar streifte Biege nicht selten den Kitsch, doch ließen seine raffiniert-verspielten Klangteppiche samt seines entfesselten Gesangs, man denke nur an Wenn der Abend kommt, bisweilen sogar an den jungen Van Morrison denken.

Abschiede, wohin man schaut. Aber bringen sie nicht auch die viel treffenderen Worte hervor als Fortsetzungen es jemals könnten? Nun, nicht unbedingt. Was Abschiede und Wiederbegegnungen angeht, waren die Männer in Howard Carpendales Liedern immer schon ein bisschen faul. Erst machen sie sich klammheimlich davon (Ein Jahr lang war ich ohne dich, ich brauchte diese Zeit für mich), dann lassen sie bewusst offen, ob ihnen ihre selbstgewählte Auszeit überhaupt irgendetwas gebracht hat (Kann sein, dass ich ein andrer bin, als der, der damals von dir ging).

Am Ende stehen sie ohne Ankündigung in der Tür, nehmen tatsächlich an, die Frau werde nicht viele Fragen stellen, sich aber von einem Hello again! schon irgendwie um den Finger wickeln lassen. Andererseits: Diese sich so lapidar zu erkennen gebende Weltläufigkeit – wer würde nicht dahinschmelzen? In Let’s say Goodbye heißt es am Ende schlicht und einfach: Und bis wir uns mal wiedersehn, vergiss mich nicht so ganz, wenn wir jetzt gehn. Leidenschaft klingt dann doch irgendwie anders. Aber so, wie der Schlager eher für das warme Glück und nicht für die Obsession steht, kennt er umgekehrt zwar Traurigkeit und Melancholie, nicht aber die Depression. Das würde in dreieinhalb Minuten auch alles viel zu weit führen, schließlich kann ein Lied nicht die Abgründe eines komplexen Lebens ausloten, und schon gar nicht die Abgründe eines Howard Carpendale.

Jeder Traurigkeit wohnt immer auch ein Glück inne

Vielleicht hatten am Nachmittag des 27. Juni 2018 für diesen einen Augenblick tatsächlich alle vergessen, dass das Ausscheiden aus einem Fußballturnier nur bedingt zum Sinnbild für die Versäumnisse des eigenen Lebens taugt, oder wenn schon nicht des eigenen Lebens, so doch zumindest der Regierung. Aber beruhigender Weise, und da hat Wincent Weiss ganz Recht, kommt auch dieser Augenblick nie mehr zurück. Und man sollte nicht vergessen: Jeder Traurigkeit wohnt immer auch ein Glück inne, und sei es nur das Glück, nicht allein traurig sein zu müssen.

Zwei Tage vor jenem historischen Debakel kommt man, an einem lauen Sommerabend, ahnungslos beschwingt im Literarischen Colloquium Berlin zusammen. Der Germanist und Kulturwissenschaftler Helmut Lethen stellt sein neues Buch „Die Staatsräte“ vor, einer seiner Gesprächspartner ist der Schriftsteller Marcel Beyer. „Roland Kaiser funktioniert ja nicht nur in Dresden“, sagt dieser später auf der Terrasse. „Wie mich das ärgert, dass ich keine Karte mehr bekommen habe. Alle vier Open-Air-Konzerte im August sind ausverkauft!“

Warum er sich das denn antun wolle, fragt jemand. „Bitte? Der Mann ist ein Phänomen! Ich war dabei, als er sein erstes Konzert gab – sein erstes Konzert mit neuer Lunge!“ Das allgemeine Gelächter wird grundiert vom Gesang des Gastgebers Thomas Geiger. Du bist nicht allein, wenn du träumst heute Abend... „Moment, das ist jetzt aber nicht Roland, das ist Roy.“ – „War das der, der aus dem Fenster gesprungen ist?“ – „Nein, das war Rex.“

Elisa Primavera-Lévy, Autorin und Redakteurin der Zeitschrift Sinn und Form, schlägt vor, „Lieb mich ein letztes Mal“ von Roland Kaiser zu hören. Ein Smartphone wird gezückt. Alle lauschen und schauen auf den Wannsee. Du sagst nicht ein Wort / Und deine Hand wischt eine Träne fort / Und dein leerer Blick sinkt in dein Glas. „Die Kastagnetten! Toll!“ – „Ja, toll!“ Nach einem langen Tag bietet Thomas Geiger an, Helmut Lethen und Marcel Beyer ins Hotel zu fahren.

Ich weiß, du musst gehen, ich muss dich verstehen. Elisa Primavera-Lévy schmunzelt. „Unglaublich, oder? Er muss sie verstehen!“ – „Besser ist nur noch: Ich weiß, dass ich die Nacht mit dir an den Tag verlier …“ – „Schön!“ – „Wow, das ist schön!“ – „Der Roland Kaiser, der hat sich in seinen Liedern ja ständig Vorwürfe gemacht, weil er so gemein war zu den Frauen. All die Abschiede. Das ist die reinste Selbstbezichtigungsmusik.“

Nie war Zeit für dich / Ich lebte nur in meiner eignen Welt. „Mensch, so viel Einsamkeit und Leere.“ – „Traurig.“ – „Wirklich traurig.“ Die Sonne ist lange schon untergegangen und noch ahnt niemand, dass sich Deutschland zwei Tage später aus dem Turnier verabschieden wird. Schenk mir die Zeit, die uns noch bleibt. Der See ruht in der Dunkelheit. Du bist nicht allein, wenn du träumst heute Abend.

Die Lyrikerin Nadja Küchenmeister, geboren 1981, lebt als freie Autorin in Berlin. Im Schöffling Verlag erschien zuletzt ihr Gedichtband „Unter dem Wacholder“.

Nadja Küchenmeister

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