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Ohne Worte. In Pauline Boudrys und Renate Lorenz' Videoarbeit "Silent" von 2016 schweigt die Sängerin Aérea Negrot in Mikrofone.

© Collection Philadelphia Museum of Art / Ellen de Bruijne Projects and Marcelle Aix, Paris

Schau in der Julia Stoschek Collection: Jenseits der Eindeutigkeit

Queere Identitäten und politischer Widerstand: Pauline Boudry und Renate Lorenz hinterfragen in der Julia Stoschek Collection herkömmliche Grenzziehungen.

Was haben Ulrike Meinhof, Marilyn Monroe und Chelsea Manning gemeinsam? Sie alle haben in der Julia Stoschek Collection einen Auftritt – evoziert von den Künstlerinnen Pauline Boudry und Renate Lorenz. In der Ausstellung „Ongoing Experiments with Strangeness“, die vier raumgreifende Video-Installationen umfasst, sorgt das Künstlerinnenduo für allerlei merkwürdige Begegnungen.

Ausgangspunkt der Schau ist die Frage, wie sich eigentlich Identitäten konstruieren. Boudry und Lorenz beziehen sich dabei auf die britische Theoretikerin Sara Ahmed. Die beschreibt in ihrem Buch „Strange Encounters“, wie Identität sich erst in der Begegnung mit anderen Menschen bildet. „Um ein „ich“ oder ein „wir“ definieren zu können, brauchen wie die Begegnung mit anderen“, so Ahmed. Das bedeutet auch, dass Identitäten nie fertig sind, sich zu konstituieren. Mit jeder Begegnung, jeder Konfrontation kommt es zu einer neuen Subjektbildung.

Die Arbeit beruht auf einer Partitur von Pauline Oliveros

Die Schau in der Julia Stoschek Collection ist die bisher umfangreichste Präsentation von Boudry und Lorenz, die derzeit auch den Schweizer Pavillon der Biennale in Venedig bespielen. Im ersten Raum ist die Videoarbeit „Telepathic Improvisations“ zu sehen, in der sich Performer, deren Gender-Identitäten nicht lesbar sind, durch den Raum bewegen und interagieren. Das Video endet mit der Künstlerin MPA, die Ulrike Meinhofs berühmte Worte rezitiert: „Protest ist, wenn ich sage, das und das passt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, dass das, was mir nicht passt, nicht länger geschieht.“ Meinhof zitierte hier wiederrum die Black Panther Bewegung.

Die Arbeit bringt die thematischen Schwerpunkte von Boudry und Lorenz zusammen: Queere Identitäten, die Auflösung von Binaritäten, politischer Widerstand – und Musik. Die Performance beruht auf einer Partitur der US-Komponistin Pauline Oliveros. Deren Musik steht auch im Zentrum des Videos „To Valerie Solanas und Marilyn Monroe in Recognition of their Desperation“. Hier untersucht eine Gruppe von Musikerinnen, darunter Elektro-Star Peaches, die Hierarchien des Musikmachens. Im Funkhaus Berlin improvisieren sie gemeinsam, im Hintergrund laufen Videoaufnahmen von der radikalen Feministin Valerie Solanas nach ihrer Verhaftung. Sie hatte 1968 versucht, Andy Warhol zu erschießen. Auch der Schauplatz von Marilyn Monroes Selbstmord ist zu sehen.

Manning wird in Einzelhaft die hormonelle Behandlung verweigert

Boudry und Lorenz‘ Arbeiten sind oft abstrakt und geprägt von einer assoziativen Offenheit, sie erschließen sich nicht auf den ersten Blick. Theorie spielt eine große Rolle in ihrem Werk, jedes Video ist in der Broschüre von langen Texten begleitet. Am einfachsten zugänglich ist die Arbeit „I Want“ von 2015. Auf großen schwarzen Kissen liegend können sich die Besucherinnen und Besucher das Video auf zwei Leinwänden anschauen. Der Blick changiert zwischen den Aufnahmen, die sich ähneln, aber nicht identisch sind. Sie zeigen die US-Künstlerin Sharon Hayes, die während einer Performance ständig neue Identitäten annimmt, um sie dann wieder zu verwerfen, wie die der Schriftstellerin Kathy Acker. Im Zentrum steht die Whistleblowerin Chelsea Manning und ihr Coming-Out als Transfrau. Hayes erzählt aus Mannings Perspektive, wie ihr in Einzelhaft die hormonelle Behandlung verweigert wird – und damit das Recht auf die eigene Identität.

[Julia Stoschek Collection Berlin, Leipziger Str. 60, Mitte, Sa und So 12-18 Uhr, bis 28.7. Künstlerinnengespräch mit Boudry und Lorenz am 27.7. um 18.30 Uhr]

Negrot lächelt, raucht und weint

„If you’re not weird, get out“, steht auf dem T-Shirt der Künstlerin. Es könnte das Motto der Ausstellung sein. Boudry und Lorenz machen Kunst für alle, die nicht in herkömmliche gesellschaftliche Muster passen und starre Begrenzungen von Identitäten hinterfragen. So auch das Video „Silent“, das zum Abschluss der Schau in einem komplett weißen Raum präsentiert wird. In dem 2016 am Kreuzberger Oranienplatz aufgenommenen Video bringt die Sängerin Aérea Negrot John Cages Werk 4’33 zur Aufführung.

4 Minuten und 33 Sekunden lang schweigt sie in Mikrofone und blickt direkt in die Kamera. Negrot, lächelt, raucht, irgendwann rollt ihr auch eine Träne über das Gesicht. Ihr Schweigen und der intensive Blickkontakt sind intimer, als jede Rede es sein könnte. Die Sängerin muss als Transfrau und Einwanderin aus Venezuela für ihre Identitäten kämpfen. Das Video ist genau an der Stelle gedreht, an der bis 2014 das Refugee-Camp stand. Schließlich fängt Negrot an zu singen, über Krieg, Freiheit und Kunst. Es sind die Momente der Stille, die in Erinnerung bleiben.

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