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A Foggy Day in London Town. Und wann senkt sich die Brexit-Nacht herab? Luftbild der Metropolitan Police.

© picture alliance / Mps In The Sk

Satire und Literatur: Die süßen Nebel des Vergessens

Was leistet politische Satire in der Literatur? Ian McEwan nimmt den Brexit aufs Korn, Ma Jian den Chinesischen Traum.

Von Gregor Dotzauer

Nicht schon wieder Brexit. Das Buch zur Stunde, das ein Sticker auf der Schutzfolie von Ian McEwans Roman „Die Kakerlake“ verspricht, ist auch ein Buch zur Unzeit. Zu spät, um das Verderben aufzuhalten; zu früh, um seine wahre Gestalt zu ermessen.

Ist Fiktion nicht überhaupt das Letzte, was sich dieser Reality Soap in der x-ten Staffel hinzufügen lässt? Und ist Satire nicht das Zahnloseste, was man gegen Boris Johnsons „Get it done“-Propaganda aufbieten kann?

Allein, wie die Nachrichten den Schach- und Winkelzügen der Brexiteers hinterherhecheln, überfordert den Verstand. Eine Satire, die, um das Wirkliche kenntlich zu machen, naturgemäß auf Verfremdung setzt, kommt dagegen nur schwer an – auch wenn es das Bedürfnis aller europafreundlichen Briten ist, ihrer Fassungslosigkeit in allen Formen Ausdruck zu verleihen.

Vielleicht liegt das tiefere Problem aber in einer Entwertung satirischer Strategien, an der diese selbst nicht ganz unschuldig sind. Wenn hierzulande Jan Böhmermann so tut, als würde er mit dem Parteivorsitz der SPD flirten. Wenn Martin Sonneborn, Ex-Chefredakteur der „Titanic“, im Europaparlament einem sich moralisch gerierenden Spaßzynismus frönt.

Oder wenn die „heute-show“ allwöchentlich mit einleuchtenden Fallbeispielen die Peinlichkeit aller Politiker von links bis rechts illustriert, dann neigt das zu jener Spielart von „aufgeklärtem falschen Bewusstsein“, die Peter Sloterdijk in seiner „Kritik der zynischen Vernunft“ einst als Wesenszug des 20. Jahrhunderts herausstellte – und vor einem Jahr in der „Neuen Zürcher Zeitung“ mit einem Epilog für das 21. Jahrhundert versah.

Friedrich Christian Delius hat vor zwei Jahren in dieser Zeitung einen Tagebucheintrag des Ungarn Imre Kertész im Hinblick auf die medialisierte Variante dieser Entwicklung interpretiert: „Der Humor hat seinen Ernst verloren; und die ernstesten Dinge macht die Theorie der allgemeinen Relativität zu vernachlässigbaren Anekdoten.“

Vergangenheitsauslöschung pur

Mangelnden Ernst kann man den Exilchinesen Ma Jian und seinem Roman „Traum von China“ gewiss nicht vorwerfen. Auch er versucht sich an einer Satire auf die unmittelbare Gegenwart: die Vergangenheitsvernichtung, die Chinas namentlich genannter Präsident Xi Jinping betreibt, um die Kulturrevolution vergessen zu machen.

Doch bei Ma Jian herrscht bittere Verzweiflung. Schon angesichts der Hunderttausenden von Toten, über deren Gräbern Xi die Vision einer goldenen nationalen Zukunft aufsteigen lässt, hat sie gute Gründe. Ma Jian hat überdies das Privileg, im Widerspruch zur offiziellen Geschichtsschreibung einen historischen Raum zu öffnen, der ahnungslose Leser zu Einsichten bringen könnte, die sie womöglich gar nicht haben wollen.

„Die Kakerlake“ dagegen lädt von vornherein zur Identifikation ein. Brexit-Befürworter wird er kaum umstimmen, falls denn eine Erzählung dazu fähig wäre. Auch dass es eine Flut von psychologischen und ökonomischen Motiven gibt, die man zum besseren Verständnis der Brexit-Idee erst einmal nennen müsste, bevor man diese der Lächerlichkeit preisgibt, ficht McEwan nicht an.

Im Wettlauf mit der Wirklichkeit

Im Wettlauf mit den realen Ereignissen geschrieben, ist „Die Kakerlake“ nicht mehr als eine unterhaltsame Fußnote im Werk eines erzählerischen Meisters, der zuletzt mit dem KI-Roman „Maschinen wie wir“ ein Stück Literatur von anderem Kaliber vorlegte.

Eine Fingerübung, von der er nicht mehr lassen konnte, nachdem er Gefallen daran gefunden hatte, den Eingangssatz von Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ gegen den Strich zu bürsten: „Als Jim Sams, klug, doch beileibe nicht tiefgründig, an diesem Morgen aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in eine ungeheure Kreatur verwandelt. Eine Weile blieb er auf dem Rücken liegen (nicht gerade seine bevorzugte Stellung) und betrachtete verwunderte die fernen Füße, die wenigen Gliedmaßen. Bloß vier, natürlich, und zudem recht unbeweglich.“

Aus einem vielgliedrigen Insekt ist ein Mensch geworden, der mit ekelhaften Zumutungen wie einer Zunge leben muss – und, als führender Artgenosse unter mehreren Kabinettsmitgliedern, mit der Rolle des britischen Premierministers.

Der naheliegende Einwand, man dürfe Menschen nicht mit Ungeziefer vergleichen, hat etwas für sich, wiegt aber wenig gegen das selbst unter satirischen Vorzeichen Zweifelhafte, niedrige Beweggründe mit den Eigenschaften einer evolutionär niedriger stehenden Art zu erklären. Das Böse ist schließlich auch etwas durch und durch Menschliches.

Erzähltechnisch ist darüber hinaus nicht ganz einleuchtend, wie ein Kakerlakenhirn sich so schnell in die Ränke von Wirtschaft und Politik einarbeiten kann.

Umkehrung der Geldströme

Mit dem fantastischen Konzept des Reversalismus skizziert McEwan eine Umkehrung der Geldströme, die zu nationalem Reichtum führen soll: „Am Ende des Arbeitsmonats gibt eine Angestellte für die vielen Stunden, die sie gearbeitet hat, ihrer Firma Geld. Geht sie einkaufen, wird sie hingegen für jede Ware, die sie mitnimmt, großzügig zum Einzelhandelstarif entschädigt.“

Immerhin identifiziert er bei alledem einen intellektuellen Starrsinn, dessen Furor sich letztlich auf ein einziges Wort reduzieren lässt.

Warum, will die deutsche Kanzlerin von Englands Premier wissen, „warum tun Sie das? Warum, zu welchem Zweck, zerreißen Sie Ihr Land? Warum behelligen Sie Ihre besten Freunde mit diesen Forderungen und führen sich auf, als wären wir Ihre Feinde? Warum?“ Jim Sams kramt in seinem Gedächtnis, probt diese und jene Antwort und kommt am Ende nur auf ein unausgesprochenes Weil: „Weil wir das nun mal tun.“ Und was sagt er stattdessen? „Weil wir, Madam Kanzlerin, ein sauberes Land werden, grün, wohlhabend, einig, souverän und ambitioniert.“ Case closed.

[Ian McEwan: Die Kakerlake. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Roben. Diogenes, Zürich 2019. 133 S., 19 €.]

Ian McEwan ist ein liberaler Patriot, Ma Jian ist ein Dissident reinsten Wassers. 1953 in Qingdao geboren, jener Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem deutschen Kolonialsitz umgebauten Hafenstadt, aus der das gleichnamige (als Tsingtao transkribierte) Bier stammt, geriet als Maler und Fotograf in Staatsdiensten Anfang der achtziger Jahre hinein in eine „Kampagne gegen geistige Verschmutzung“. Dass ihn seine Ehefrau verlassen und an die Behörden verraten hatte und die Freundin betrogen, veranlasste ihn, kurz nach seinem 30. Geburtstag aus Peking zu fliehen und eine dreijährige Reise durch ganz China anzutreten.

„Red Dust“, ein Klassiker der zeitgenössischen Chinaliteratur, erzählt von diesem Abenteuer mit hingebungsvoller Härte. 1989 nahm Ma Jian an den Protesten auf dem Tiananmen-Platz teil, über die er seinen Roman „Peking Koma“ schrieb, und suchte Zuflucht in Hongkong.

Als die britische Kronkolonie 1997 wieder Teil der Volksrepublik wurde, ging er mit einem zweijährigen Umweg über Deutschland nach London. Dort lebt er, inzwischen ohne Hoffnung, jemals wieder nach China einreisen zu können, mit seiner Frau, der Übersetzerin Flora Drew.

Dämonen der Kulturrevolution

Ma Jian hat schon bessere Romane geschrieben, mit „Die dunkle Straße“ zuletzt ein Schauermärchen über die Ein-Kind-Politik. Aber innerhalb der chinesischen Literatur, als die sich „Traum von China“ zweifellos versteht, schlägt er Töne an, zu denen sich der staatsnähere Literaturnobelpreisträger Mo Yan in seiner barocken Sprachpracht nie durchringen würde. Und der spottlustige Yan Lianke, dessen Bücher zumeist in Taiwan und Hongkong erscheinen, wüsste, dass er mit einer solchen Kompromisslosigkeit nicht zuletzt seine Stelle an der Pekinger Renmin-Universität riskieren würde.

Ma Jian tut etwas Unerhörtes: Sein Protagonist Ma Daode, Direktor des Traum-von-China-Büros in Ziyang, einer Stadt in der Provinz Sichuan, lebt mit den Dämonen der bis 1976 wütenden Kulturrevolution, die seine Eltern 1968 auf einem ersten Höhepunkt als angebliche Rechtsabweichler in den Selbstmord trieb. Und er ist ein durch und durch korrupter, frauenverschlingender Parteifunktionär, der die nationale Erweckung des neuen China rücksichtslos vorantreibt.

[Ma Jian: Traum von China. Roman. Aus dem Englischen von Susanne Höbel, Rowohlt, Hamburg 2019. 191 S., 22 €.]

Maos Kulturrevolution und Xis Autokratie, Opfer- und Täterschaft, finden in einer großen Zeitschleife zusammen.

Die Erinnerung an die fünfzig Jahre zurückliegenden Schrecken überfällt Ma Daode so jäh wie das SMS-Liebesgeflüster seiner zahlreichen Mätressen. Und dass er sich im Nachtclub Rote Garde einer Orgie hingibt, die die Frauen zunächst in die alten Uniformen hüllt, bringt die Epochen vollends durcheinander.

Lyrik verschwimmt mit Propaganda

Kursive und normal gesetzte Passagen stoßen im Neben- und Durcheinander aneinander. In Versalien verschwimmen die drittklassigen Verse des Hobbylyrikers mit den offiziellen Propagandasprüchen und den Botschaften der Geliebten: Ma Daode, der seinen Mitbürgern Neuro-Implantate verordnen will, die sie mit nichts als positiven Gefühlen fluten, wird fast verrückt.

In seiner Bedrängnis sucht er Hilfe bei einem Quacksalber, um sich Mütterlein Traums Trunk des Vergessens verschreiben zu lassen.

In der historischen Sache erfährt man aus Ma Jians Roman – mit einer eigens angefertigten Umschlagzeichnung von Ai Weiwei – wenig Neues über Xi Jinpings 2012 ausgerufenen Chinesischen Traum. Psychologisch wirkt die qualvolle mémoire involontaire aufregend frisch – weil sie für die gesamte Volksseele gilt. In dieser Komprimiertheit entfaltet die Satire noch einmal ihre ganze Kraft.

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