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Vom Zufall geschaffen. Aber auch vom Enfant terrible der Zeichenkunst, Horst Janssen. Ohne Titel, im Jahr 1977, unter Zuhilfenahme von Bleistift, Feder und Aquarellfarben.

© Hamburger Kunsthalle/bpk/VG Bild-Kunst, Bonn 2019/Foto: Christoph Irrgang

Sammlung Scharf-Gerstenberg Berlin: Kritzelritter im Laufgitter

Sudeleien statt Postkartenmotive: Die Sammlung Scharf-Gerstenberg würdigt den wilden Zeichner und Grafiker Horst Janssen.

Platsch! Der Klecks sitzt. Ausgefranster Rand, unverhoffte Ausstülpungen: Was ließe sich daraus machen? Ein struppiger Hund, schlenkerndes Totengerippe oder windzerzaustes Buschwerk als Landschaft in nuce? Horst Janssens Bilderfactory ist eine Einladung, das imaginierende Sehen anzukurbeln.

Die Sammlung Scharf-Gerstenberg der Nationalgalerie nimmt den 90. Geburtstag des 1995 verstorbenen Künstlers zum Anlass, dem manischen Zeichner, Schmierer und Kleckser beim Arbeitsprozess über die Schulter zu schauen. Nicht die allzu oft reproduzierten, populären Poster- und Postkartenmotive des Hamburgers werden ausgebreitet, sondern raubeinige Preziosen und virtuose Sudeleien, die Janssen beim lustvollen Ringen mit dem Material und seinem Mitschöpfer, dem Zufall, zeigen.

Ein trinkfester Rabauke mit seltsamem Verhältnis zu Frauen

Der uneheliche Schneiderinnensohn gefiel sich in seiner Rolle als Außenseiter des Kunstbetriebs und Verächter der in den 60er Jahren angesagten Abstraktion. Er machte als trinkfester Rabauke mit Gewaltattacken gegen Frauen von sich reden und brachte es zu erheblichem wirtschaftlichem Erfolg.

Dass Janssen ein begnadeter Zeichner war, stand auch für die, die seine Motive altbacken und sein Gehabe unerträglich fanden, nie außer Frage. Er kläubelte Landschaften, Stillleben und immer wieder sein eigenes Konterfei, während drüben in Amerika Jackson Pollock das Dripping als heroischen Befreiungsakt ausagierte.

Spritzen, Träufeln, Tropfen und Klecksen, Schmieren und Fließenlassen, das liebte Janssen auch. Zum flüssigen Malmaterial und insbesondere zu den verschiedenen Papierqualitäten hatte er ein geradezu libidinöses Verhältnis, was er in schlüpfrigen Sottisen auch gern betonte.

Überfahrener Frosch, vertrocknete Banalenschale

Aber für ihn waren die scheinbar hingerotzten Zufallsschlieren immer auch ein Sprungbrett für die Einbildungskraft: Rohstoff für bizarre Figurenszenen oder landschaftliche Assoziationen. Ob umgeschüttete Kaffeetasse oder überfahrener Frosch, vertrocknete Bananenschale oder Schnappschuss-Polaroid: alles war Janssen recht, um der Phantasie Nahrung und Anstoß zu geben.

Als mit allen Wassern gewaschener und in allen Techniken bewanderter Grafiker empfahl er, Radierplatten mit flachem Schwung übers Straßenpflaster zu schleudern, um sich hernach die zerschrammten Oberflächenlineamente zunutze zu machen. Schon die Surrealisten wussten um die schöpferische Effizienz des Zufalls.

Und sie waren natürlich nicht die Ersten: Leonardo da Vincis Ratschlag, feuchte Flecken auf abblätterndem Putz als kompositorische Anregung auszuwerten, haben viele Künstlergenerationen beherzigt. Packend bei Horst Janssen ist, wie er alle Stufen vom vagen „Esweißnichtwas“ bis zur präzise ausformulierten Darstellung testet.

Selbstironie bricht sich in Fotocollagen Bahn

Mal lässt er einen bizarren Fleck einfach Fleck sein und macht eine großformatige, technisch perfekte Radierung daraus. Mal schlängeln sich scheinbar zufällige Linien übers Papier und paaren sich. So wie die Körper, die daraus entstehen. Oft winzig klein hinzugekritzelte Beschriftungen benennen Anlässe oder Adressaten, wachsen sich oft zu Sprachspielereien aus.

Seinem Galeristen Hans Brockstedt widmete er eine Lithographiefolge, die dessen Konterfei als Negativ- oder Positivform immer wieder neu durchdekliniert. Sich selbst setzte er in einer bekritzelten Fotocollage selbstironisch in einen Babylaufstall: „Eigentlich bin ich kein Raufritter auch kein Saufritter sondern ein Kritzelritter im Laufgitter.“

[Sammlung Scharf-Gerstenberg, Schlossstr. 70, Charlottenburg, bis 3. 5., Di-So 10-18 Uhr]

Immer dabei, als künstlerisches Alter Ego, ist bei Horst Janssen Gevatter Tod, von dem ihm als Kind schon sein Großvater erzählte. Er lugt dem Künstler auf einem übermalten Foto am Arbeitstisch über die Schulter. Er lässt die Gräser in der norddeutschen Flachlandschaft welken. Und wenn in einer mehr als 20 Blatt starken Radierfolge der Knochenmann wild zu tanzen anhebt, dann klappern die Gebeine und das jahrhundertealte Totentanzmotiv ist noch lange nicht tot.

Eine späte Radierung von 1988 zeigt eine geometrisch abstrakte Balkenkomposition. Hat sich der Künstler, spät genug, etwa doch zur Abstraktion durchgerungen? Das Blatt trägt den Untertitel „Earth“. Und das Motiv ließe sich ebenso gut als verknappte Chiffre eines Grabkreuzes lesen.

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