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Leinen los. Tanz mit dem Tuch in Jefta van Dinthers „Plateau Effect“.

© Jubal Battisti

Saisonstart beim Staatsballett Berlin: Teambuilding im Orkan

Sasha Waltz ist an Bord, doch eine Uraufführung gibt es nicht: Das Staatsballett Berlin zeigt zum Saisonstart „Plateau Effect“ von Jefta van Dinther.

Von Sandra Luzina

Es ist die trügerische Ruhe vor dem Sturm. Zu Beginn von Jefta van Dinthers Stück „Plateau Effect“ in der Komischen Oper stehen sieben Tänzer vor dem hellgrauen Vorhang. Während ein melancholischer Song erklingt, verlieren die Performer langsam ihren Halt. Einige klammern sich am Tuch fest, verbergen sich in den Falten, bis der Vorhang sie verschluckt. Mächtig bauscht sich das Tuch, während ein Wirbelsturm aufzuziehen scheint. Als Erstes denkt man an die drohende Klimakatastrophe. Durch Klanggewitter und Lichtblitze werden auch die Zuschauer in die Turbulenzen gezogen.

Zum Auftakt der neuen Saison zeigt das Staatsballett Berlin mit „Plateau Effect“ ein radikal zeitgenössisches Stück. Diese zweite Spielzeit unter der neuen Doppelspitze wird entscheidend sein. Denn nachdem Johannes Öhman die erste allein gestemmt hat, ist nun auch Sasha Waltz an Bord. Dass das Ensemble soeben bei der jährlichen Kritikerumfrage der Zeitschrift „Tanz“ zur „Kompanie des Jahres“ gekürt wurde, ist eine Ermutigung für das Duo, das anfangs mit heftigem Gegenwind zu kämpfen hatte.

Zunächst war eine Uraufführung von Jefta van Dinther angekündigt worden. Doch da man dem in Berlin und Stockholm arbeitenden Choreografen nicht die geforderten Bühnenproben einräumen konnte, hat das Staatsballett nun das Stück „Plateau Effect“ übernommen, das van Dinther 2013 für das schwedische Cullberg Ballet kreierte.

Die Probenzeit reichte nicht, so gibt es die Übernahme einer alten Produktion

Mit dem Stück setzt er seine Forschungen zu Wahrnehmung und Synästhesie fort. Die Szenografie hat die Künstlergruppe SIMKA entworfen, für das Lichtkonzept zeichnet wieder Minna Tiikkainen verantwortlich. Die elektronischen Sounds hat David Kiers komponiert. Dieses Zusammenspiel aus Bewegung, Licht, Klang und Materialien entwickelt eine starke Sogwirkung.

Die Hälfte der Tänzer ist neu engagiert: Tara Samaya, Harumi Terayama, Yi Chi Lee, Dana Pajarillaga und Paul Vickers haben mit „Plateau Effect“ ihre Feuertaufe bestanden. Doch auch Vladislav Marinov, seit 2004 beim Staatsballett, hat einen starken Auftritt. Die zehn Performer bilden hier eine Gemeinschaft, in der alle auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen sind. Sie stürzen sich in verschiedene Manöver und geraten schon mal in schwere See. Man kann den Tänzern bei der Arbeit zusehen. Nachdem der Vorhang von den Stangen gelöst wurde, beginnen ganz konkrete Aktionen, bei denen Teamarbeit gefordert ist. Wenn die Performer mit dem Tuch kämpfen, Drähte spannen, denkt man an das Hissen oder Reffen von Segeln – oder an das Erbauen eines provisorischen Zeltlagers.

Radikal zeitgenössisch: Tanz steht nicht unangefochten im Mittelpunkt

Alles ist im Wandel. Es ist ein Navigieren durchs Ungewisse. Die Tänzer verständigen sich mit Rufen, ringen um die Orientierung und hängen auch schon mal in den Seilen oder sinken erschöpft zu Boden. Zwischenzeitlich wirkt das Geschehen vollkommen planlos. Das Chaos schwappt auch über den Orchestergraben. Doch plötzlich erklingen Glöckchen zu pulsierenden Beats, die Tänzer bewegen sich wie in Trance, um dann wieder ihre Kräfte zu bündeln.

„Plateau Effect“ ist deshalb so radikal zeitgenössisch, weil Jefta van Dinther die Sehgewohnheiten hinterfragt und der Tanz dabei nicht wie gewohnt unangefochten im Vordergrund steht. Das irritiert viele Zuschauer. Die Tänzer, die hier konkrete Aufgaben bewältigen, schwanken zwischen physischer Verausgabung und zuckender Ekstase. Jefta van Dinther gelingen hochemotionale Szenen und ungewöhnliche Bilder, die einen weiten Assoziationsraum öffnen. Auch an politischen Schiffbruch kann man in Brexit-Zeiten denken. Die Tänzer legen sich mächtig ins Zeug, sodass „Plateau Effect“ wie eine Parabel über kollektives Handeln anmutet. Nur wenn alle an einem Strang ziehen – das macht das Stück mit aller Dringlichkeit deutlich –, haben wir überhaupt noch eine Chance.

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