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Virtuose Erzählerin. Gabriela Adameșteanu verbindet mühelos verschiedene Zeitebenen.

© Hélie Gallimard

Rumänischer Klassiker „Verlorener Morgen“: Die Damen von Bukarest

Gabriela Adameșteanus Roman „Verlorener Morgen“ entfaltet ein wunderbares Panorama rumänischer Zeitgeschichte. Nach 35 Jahren erscheint eine deutsche Übersetzung.

Häufig bestehen die Titel von Gabriela Adameșteanus Romanen aus Zeitangaben. Sie heißen „Schenk dir einen Ferientag“, „Sommer – Frühling“ oder eben „Verlorener Morgen“. Debütiert hat die 1942 in einem kleinen Städtchen am Rande der Ostkarpaten geborene Schriftstellerin Gabriela Adameșteanu 1975 mit einem autobiografisch grundierten Entwicklungsroman über die Studentin Letitia: „Der gleiche Weg an jedem Tag“.

Ihr Hauptwerk „Verlorener Morgen“ gilt als rumänische Version von Marcel Prousts „Recherche“. An einem Wintermorgen in Bukarest, Anfang der achtziger Jahre, fällt der ehemaligen Schneiderin und Ladenbesitzerin Vica Delch zu Hause die Decke auf den Kopf. Also zieht sie ihren verblichenen blauen Mantel an und schließt die Tür hinter ihrem Mann, den sie nur „das alte Rindviech“ nennt. Ab diesem Moment entfaltet sich ein Bewusstseinsstrom, der es mit dem der Dubliner Fischhändlerin Molly Bloom aus James Joyce’ Roman „Ulysses“ aufnehmen kann. Die gut siebzigjährige Vica macht sich mit der Straßenbahn auf den Weg quer durch Bukarest. Ihr Ziel ist zunächst ihre Schwägerin und anschließend die Villa der Familie Ioaniu, die auch schon bessere Tage gesehen hat.

Ein gewaltiges narratives Manöver

Vor dem Anwesen steht ein alter Birnbaum, aus Mauerresten sprießt Efeu. Im Inneren knarzt das Parkett und hängt eine übrig gebliebene Glocke, die früher, lange vor dem Kommunismus, zu den Mahlzeiten rief: Das sind die wichtigsten Motive, mit deren Hilfe Gabriela Adameșteanu ihr gewaltiges narratives Manöver in Gang setzt.

Virtuos schaltet sie in der erzählten Zeit von siebzig Jahren hin und her – und das an einem einzigen Tag, an dessen Ende wieder das Parkett knarzen wird. Die einstige Hausherrin Sophie Ioaniu hatte der Schneiderin Vica vor ihrem Tod versprochen, dass diese von ihrer Tochter Ivona alle zwei Monate fünfzig Lei erhalten werde. Darauf pocht Vica nun, die als Lehrmädchen in das Modeatelier von Sophies Schwester engagiert worden war: „Ach, was waren das für Kleider, und für Mäntel! In diesen Jahren damals hatte sie echte Damen gesehen, die Damen von Bukarest.“

Adameșteanu schuf eine eigene Umgangssprache

1983 erschien Gabriela Adameșteanus Roman in Rumänien. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Ceaușescu-Diktatur das Land weitgehend isoliert, was eine Massenemigration zur Folge hatte. Auch der Roman erzählt immer wieder von abwesenden, schmerzlich vermissten Söhnen und Neffen. Kehrten die Emigranten nicht nach Rumänien zurück, fiel ihr Grundbesitz an den Staat.

Eigentlich war es 1983 ein Unding, in der angeblich klassenlosen Gesellschaft des Conducators einen Roman über zwei Frauen völlig verschiedener sozialer Sphären zu schreiben. Doch der „Verlorene Morgen“ kam durch die Zensur. Ähnliches gelang nur Norman Manea 1986 mit seinem Roman „Der schwarze Briefumschlag“, der in gewaltigen surrealen Metaphern den von materieller Not und ständiger Überwachung geprägten Alltag unter Ceaușescu abbildete.

Viel Aufsehen erregte Adameșteanu mit ihrer Erschaffung einer eigenen Umgangssprache, in der vor allem Vica räsoniert und die sich als Protest gegen die Sprechweise der Funktionäre lesen lässt. Eva Ruth Wemme hat die Herausforderung, dafür ein adäquates Deutsch zu finden, souverän und innovativ gemeistert: „Madam Ioaniu kam tipp-tapp mit dem dampfenden Kaffeetopf und den Tassen, sie kam auch mit einer Flasche an, bisschen schnäpseln. Der war gut, der Pflaumenschnaps, Madam Ioaniu aß und trank auch gerne. Und da kam das über ihren Mann aus ihr rausgesprudelt.“

Schule des Lebens

Der Einzelne und die Gesellschaft, das Schweigen und das zum Teil erzwungene Gespräch im Kollektiv sind Themen, die Gabriela Adameșteanu immer wieder beschäftigen. Eine rumänische Literaturgeschichte nennt ihr Werk eine „éducation sentimentale“, die auf feminine Weise den Übergang von einem Lebensalter zum nächsten beschreibe. In „Verlorener Morgen“ nimmt sie durch Vica Delchs Augen und Mund mit sarkastischem Witz das Alter in den Blick: „Du bist vielleicht belesen, aber ich hab die Schule des Lebens durchgemacht! Die Schule des Lebens, Abendkurs, wie ich zu Madam Ioaniu immer gesagt hab … Und was haben wir beide da immer gelacht!“

Als Vica endlich die Villa der Ioanius erreicht, trifft sie dort auf die kaum jüngere Lehrerin Ivona, die wie so oft auf ihren Mann Titi wartet – der vergnügt sich anderweitig. In diesen Szenen entfaltet sich ein Panorama des alten frankophilen Bukarest, von dem ein ganzes Viertel den staatlichen Planierraupen zum Opfer fiel.

Die mittleren Partien des vierteiligen Buches handeln von den Jahren 1914 und 1916, blenden also in Ivonas Kindheit als Tochter des Professors Mironescu zurück, der später durch die Deutschen umkommt. 1914 debattiert die rumänische Monarchie unter ihrem Hohenzollern-König Ferdinand I., ob und auf welcher Seite sie in den Krieg eintreten soll. Ivonas Stiefvater, General Ioaniu, stirbt nach dem Krieg im Gefängnis, die Tante wird von der Securitate verhaftet, da sie einen Dissidenten versteckt hatte. So schmirgelt die Zeitgeschichte das Schicksal des vielköpfigen Figurenpanoramas ab.

Nach Tudor Arghezis fantastischem Epos „Der Friedhof“ aus dem Jahr 1936, das längst vergriffen ist, schmückt nun ein zweiter großer Bukarest-Roman die Andere Bibliothek. Dass die deutsche Ausgabe von „Verlorener Morgen“ 35 Jahre auf sich warten ließ, wirkt bei einer Autorin, in deren Werk es so oft um Zeitangaben geht, wie eine ironische Pointe. Mit ihrer Übersetzung ist Eva Ruth Wemme für den Leipziger Buchpreis nominiert.

Gabriela Adameșteanu: Verlorener Morgen. Roman. Aus dem Rumänischen von Eva Ruth Wemme. Die Andere Bibliothek, Berlin 2019. 561 Seiten, 42 €.

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