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Leitmotiv, Kulisse und Fetischobjekt: Die Hagia Sophia in Istanbul

© AFP / Ozan Kose

Romane des Georgiers Iliazd: Sprengung der Hagia Sophia

Ganz schön dada: Die Romane des Georgiers Iliazd erzählen von Abenteuern im Kaukasus und in Konstantinopel gestrandeten Russen.

Das frühe 20. Jahrhundert brachte nicht nur den Ersten Weltkrieg und die Russische Revolution, sondern auch avantgardistische Kunstbewegungen wie den russischen Futurismus oder den Dadaismus auf den Weg, der seine Geburtsstunde 1916 im Cabaret Voltaire in der Zürcher Spiegelgasse erlebte. Beide Bewegungen sind von den politischen Ereignissen jener Jahre nicht zu trennen. Sie stehen in engem Zusammenhang, auch wenn es sich wohl nur um einen Zufall handelt, dass sich Lenins Schweizer Exilwohnung direkt um die Ecke des Dadaisten-Treffpunkts befand.

Der 1894 im georgischen Tbilisi unter dem Namen Ilya Zdanevic geborene Iliazd, ein hochbegabtes Allroundtalent, stand dem Futurismus, dem Dadaismus sowie den französischen Symbolisten nah und ging als einer der innovativsten Typografen und Buchdesigner des 20. Jahrhunderts in die Geschichte ein. Er verlegte illustrierte Bücher unter anderem von George Braque, Max Ernst, Alberto Giacometti, Joan Miró und seinem langjährigen Wegbegleiter Pablo Picasso. Als Stoffdesigner arbeitete Iliazd für Chanel. Und er schrieb Gedichte, Theaterstücke und Romane – bizarre, absonderliche, gerade dadurch bemerkenswerte Romane.

„Die russischen Buchhändler haben sich geweigert, dieses Buch zu verkaufen. Wenn Sie genauso furchtsam sind, lesen Sie es nicht!“ Dieser Aufdruck stand 1930 auf einer Manschette, mit welcher Iliazd seinen damals selbst verlegten und zum Georgien-Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse bei Matthes & Seitz erstmals auf Deutsch erscheinenden Roman „Verzückung“ versehen hatte. Bis auf den auf russische Literatur und die Pariser Avantgarde spezialisierten Jacques Povolozky hatten alle anderen russischen Buchhändler in Paris den Roman boykottiert. Vorab war er schon der russischen Zensur zum Opfer gefallen. Der Grund: „unanständige Wörter“.

Unanständig erscheint dem heutigen Leser wenig

Dabei ist das extrem anspielungsreiche Werk, das einen versteckten inneren Dialog mit der russischen Literatur, mit Puschkin, Gogol, Leskow, Turgenjew und besonders mit Dostojewski enthält, zunächst einmal ein irrlichternder Abenteuerroman über die eigenwilligen Bewohner entlegener Bergwelten. „Verzückung“ erzählt auf mitunter hochpoetische Weise von der überwältigenden Natur des Kaukasus, von der gefährdeten Reinheit des Schnees und von der Liebe der schönen Ivlita und dem jungen Hitzkopf Lavrenti, der auf halsbrecherische Unternehmungen aus ist und dessen Denken einerseits um Ivlita, andererseits um „dieses wunderbare Wort: R ä u b e r“ kreist. Unanständig aber erscheint dem heutigen Leser hier verschwindend wenig. Da haben sich die Maßstäbe in den letzten hundert Jahren schon gewaltig verschoben.

Ein weiterer Roman Iliazds wurde in seinem Nachlass gefunden und erschien bereits im vergangenen Jahr, ebenfalls in gelungener Übersetzung von Regine Kühn auch schon bei Matthes & Seitz. Er heißt „Philosophia“. Bei aller Liebe zur Weisheit, die das sprachlich und motivlich überbordende Werk auch in sich birgt, bezieht sich der Titel vielmehr auf die einst christlich-byzantinische, zur Zeit der Romanhandlung um 1920 längst muslimische Hagia Sophia, die letzte der spektakulären Großkirchen der Spätantike.

Der labyrinthische Text erinnert an postmoderne Autoren

Die Hagia Sophia ist gleichzeitig Leitmotiv, Kulisse und so etwas wie ein Fetischobjekt des Erzählers, der auch von einer Romanfigur namens Iliazd berichtet. Die Irritation und Verwirrung, die das hervorruft – die nicht zu klärende Frage des „wer ist wer und was tut er denn gerade“ –, ist kalkuliert, der Inhalte wie Formen zersetzende Dada-Hintergrund ist hier wesentlich deutlicher spürbar als in „Verzückung“. Die Handlung, wenn davon überhaupt die Rede sein kann, besteht im Wesentlichen aus dem unaufhaltsamen Rad der Geschichte, das nicht alles, aber doch einiges zu zermalmen droht. Wie in „Verzückung“ geht es auch in „Philosophia“ um verborgene Schätze und die Suche danach. Der labyrinthische Text erinnert mit seinem phantomhaften Personal an postmoderne Autoren wie Thomas Pynchon, zumal es hier auch um undurchsichtige Verschwörungen und paranoide Wahnvorstellungen geht – wie die Gefahr einer Sprengung des Konstantinopeler Wahrzeichens, symbolischer Höhepunkt der Angst der Türken, die Russen würden einfallen, um den Islam zu verdrängen.

Iliazd landete selbst 1920 in der osmanischen Metropole, bevor er sich dann in Paris niederließ, wo er sich nicht nur dem Schreiben und der Kunst der Buchgestaltung widmete, sondern auch dem französisch-russischen Kulturaustausch. Anders als die russischen Weißgardisten, von denen viele in seinem Nachlass-Buch auftauchen, war er nicht vor der Roten Armee geflohen, sondern kam als Künstler aus dem gar nicht so weit entfernten Georgien, das sich nach der Oktoberrevolution für unabhängig erklärt hatte. Das turbulente Jahr in Konstantinopel hinterließ Eindrücke, die Iliazd Jahre später in „Philosophia“ festhielt.

Weit davon entfernt, autobiografisch zu sein, ist dieser dichte, archaische Text auch ein Dokument dafür, auf welch extreme Weise politische Umwälzungen künstlerische Reaktionen hervorrufen können.

Iliazd: Philosophia. Matthes & Seitz, Berlin 2017, 384 Seiten, 30 €. Verzückung. Aus dem Russischen von Regine Kühn. Matthes & Seitz, Berlin 2018, 224 Seiten, 28 €.

Tobias Schwartz

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