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Die Kleist-Preisträgerin Yoko Tawada ist eine Grenzgängerin zwischen dem Japanischen und dem Deuschen.

© François Guillot/AFP

Roman von Yoko Tawada: Sorgensprösslinge

Die in Deutschland lebende Autorin Yoko Tawada hat mit „Sendbo(o)te“ einen dystopischen Roman geschrieben.

Europa ist, wenn alle Milch trinken, ohne zu erbrechen, hat Yoko Tawada einmal erklärt. In diesem Bild der 1960 in Tokio geborenen und seit über drei Jahrzehnten in Deutschland lebenden Lyrikerin und Prosaistin zeigt sich nicht nur ihre Obsession für Nahrung und Essen. Fremdheit hervorzuheben gehört zu den hervorstechendsten Fähigkeiten der auf Deutsch und Japanisch schreibenden Autorin. Die deutschen Buchstaben und Silben, sagt sie, begegneten ihr so frisch und inspirierend, dass ihr die Fremdsprache ihre Texte näherbrächten als die Muttersprache.

Ihren neuen Roman „Sendbo(o)te“ allerdings hat die Kleist-Preisträgerin von 2016 auf Japanisch verfasst, und auch darin ist Essen und Nichtessenkönnen ein Thema. Er erzählt von einem in der Zukunft liegenden Japan, das sich nach einer Umweltkatastrophe völlig von der Außenwelt abgeriegelt hat, ähnlich wie in der Edo-Ära im 17. und 18. Jahrhundert. Dadurch soll verhindert werden, dass die Kontamination und die damit verbundenen Mutationen auf andere Länder übergreifen. Autos und Elektrogeräte sind weitgehend abgeschafft, Tiere, mit Ausnahme von einigen Miethunden, ausgestorben, lediglich Spinnen und Kraken haben das Inferno überlebt. Auch die herkömmlichen Geschlechtergrenzen beginnen zu verschwimmen.

Europa ist Milch und Roggenbrot

Der 107-jährige Yoshiro, ein Schriftsteller, erinnert sich noch an die Zeit vor diesem Ereignis und an die alten Wörter, die damals noch gebraucht werden durften, pan etwa, das an fremde Länder erinnert und den Traum, der darin steckt. Inzwischen reist Yoshiro nur noch „entlang der inneren Kurven seines Kopfes“ in diese Länder, die alleine zu nennen nun verboten ist. Im Unterschied zu den 70-jährigen jungen Alten gehört er zu den echten Alten, „die nicht sterben können“. Seine einzige Mission besteht nur noch darin, seinen Urenkel Mumey aufzuziehen, denn seine Tochter arbeitet irgendwo im Süden in einer Obstfabrik, und sein Enkel Tomo kümmert sich nicht um das Kind.

Für Yoshiro ist die Sorge für Mumey keine leichte Aufgabe. Die Versorgungslage ist schwierig, und die Kinder leiden an Zellerkrankungen und brüchigen Zähnen. Sie können kaum etwas kauen und schlucken. Sie laufen schlecht, müssen im Haus gehalten werden. Mumey beispielsweise hat noch niemals auf einer Wiese gespielt: „Picknicken draußen geht ja nicht“, sagt er gelassen – Pessimismus ist diesen Kindern fremd. Während sie sich wünschen, Laufkurier zu werden, übernehmen die kräftigen Alten alle schwere körperliche Arbeit und können zum Erstaunen Mumeys sogar noch das schwere deutsche Roggenbrot beißen, das der 90-jährige Bäcker nebenan herstellt.

Ein Kommentar zur Fukushima-Katastrophe

Je weiter Mumeys Verfall voranschreitet, desto trauriger wird Yoshiro. Jeder neue Morgen ist für ihn wie ein „Feld voller Sorgensprösslinge“ – eines der vielen von Peter Pörtner übertragenen poetischen Bilder und Sprachspiele, die der Roman bereithält. Er hält es mittlerweile „für reine Überheblichkeit zu meinen, man könne seinen Nachfahren Reichtum und Wissen vermachen.“ Vielmehr sei es „nötig, den Mut zu haben, das, was man über hundert Jahre für richtig hielt, in Zweifel zu ziehen.“ Yoshiros Frau arbeitet inzwischen in den Bergen für eine geheime Organisation, die nach geeigneten Kindern fahndet, um sie zu Forschungszwecken als „Sendboten“ ins Ausland zu schicken. Ihren Urenkel Mumey hat sie bislang verschont, doch nun ist der Blick des Lehrers auf ihn gefallen.

Tawadas locker zusammengefügter Roman, der sich viele Abschweifungen und Binnenerzählungen erlaubt, lässt sich als Kommentar zur Katastrophe von Fukushima lesen. Doch die Fragen, die er aufwirft, gehen über das Dystopische hinaus: Was zählt nach einer solchen Katastrophe? Wie geht die ältere Generation um mit ihrer Schuld, falsche Entscheidungen getroffen zu haben zu Lasten der folgenden? Und was passiert mit der Sprache in einem Land, das glaubt, sich kulturell abschotten zu müssen, nicht nur nach einer Katastrophe?

Wie schon in „Etüden im Schnee“ (2014), einem Roman aus der Perspektive des berühmten Berliner Eisbären Knut, schlägt Tawada auch in diesem Roman wieder einen Perspektivwechsel vor, der das Selbstverständliche fremd macht: „Früher hat man anscheinend gedacht, dass es eine Degeneration sei, wenn die Menschen zu Kraken werden, aber in Wirklichkeit ist es ein Fortschritt.“ Er, Yoshiro, würde gern einmal alles mit anderen Augen sehen – zum Beispiel mit denen eines Kraken.

Yoko Tawada: Sendbo(o)te. Roman. Aus dem Japanischen von Peter Pörtner. Konkursbuch Verlag, Tübingen 2018. 197 Seiten, 12,90 €.

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