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Ein Stück des amerikanischen Grenzzauns bei Tijuana, Mexico.

© Guillermo Arias / AFP

Roman von Valeria Luiselli: Hilferufe im Echo Canyon

Gewaltmarsch ins Gelobte Land: Die mexikanische Autorin Valeria Luiselli nähert sich dem Flüchtlingsdrama an der amerikanisch-mexikanischen Grenze literarisch.

Von Gregor Dotzauer

Vier verlorene Seelen auf dem Weg nach Arizona, denen Tausende noch weitaus verlorenerer Flüchtlingskinder aus ganz Lateinamerika entgegenstreben. Zu dem Quartett, das sich von New York City aus aufgemacht hat, könnte man auch Familie sagen, wenn die Konstellation nicht ins Wanken geraten wäre.

Papa Cochise, wie ihn die auf den Ersatznamen Memphis getaufte fünfjährige Stieftochter nennt, die als Glücklicher Pfeil apostrophierte Mutter und der zehnjährige, auf Flinke Feder hörende Sohn des Vaters sind eine Gemeinschaft ohne Zukunft, doch immerhin mit einem Autodach über dem Kopf. Denn was heißt schon Zukunft, verglichen mit den Unbegleiteten, die ihre Gewaltmärsche ins Gelobte Land mithilfe von Güterzügen abzukürzen versuchen.

Die Eltern sind Soundscape-Künstler. Er will im Cochise County ein „Echo-Register“ zur aussterbenden Kultur der Apachen anlegen, sie Stimmen von Flüchtlingskindern sammeln. Zusammen mit ihrer Patchworkfamilie schickt Valeria Luiselli in „Archiv der verlorenen Kinder“ im Kofferraum auch sieben Schachteln auf die Reise, deren Inhalte sie vollständig auflistet, teils zitierend oder faksimilierend auspackt und im Fall der angeblich von den Stiefgeschwistern aufgenommenen Polaroids in einem farbigen Anhang sogar vollständig präsentiert. Die Boxen enthalten Notizbücher und existierende wie erfundene literarische Werke, kulturhistorische Studien sowie Tonbänder und CDs.

Die Autorin hat am Einwanderungsgericht in New York gearbeitet

Die große amerikanisch-mexikanische Gegenbewegung, die den dritten, erstmals auf Englisch geschriebenen Roman der 1983 in Mexico City geborenen Diplomatentochter prägt, ist ein Fest der intertextuellen Selbstbezüglichkeit. Doch ebendarin gibt sie dem Flüchtlingsdrama an der 3144 Kilometer langen Grenze ein literarisches Gesicht, das Fiktionales und Dokumentarisches durch die Einbeziehung von Landkarten, Zeitungsausschnitten oder Totenberichten mühelos vereint

Seit 2006, rechnete Luiselli vor zwei Jahren in „Tell Me How It Ends – An Essay in Forty Questions“ (Coffee House Press) vor, sind rund 120 000 asylsuchende Lateinamerikaner auf ihrem Weg durch Mexiko verloren gegangen: ertrunken, verdurstet oder Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen. Über 100 000 unbegleitete Kinder wurden von der Border Patrol zurückgehalten.

Valeria Luiselli kennt viele Schicksale aus eigener Anschauung. Am Einwanderungsgericht ihrer Wahlheimat New York hat sie ehrenamtlich gedolmetscht und in Schreibseminaren Jugendliche angeleitet, ihre Erfahrungen festzuhalten.

Elegien für verlorene Kinder

Der im Jahr 2014 angesiedelte Roman, unter wechselnden Stichworten in kurze Abschnitte kaleidoskopartig zersplittert, trägt erkennbar autofiktionale Züge. Sogar die Reise an die Grenze hat Luiselli mit ihrem Ex-Mann, dem Schriftsteller Álvaro Enrigue, vor fünf Jahren, als Donald Trump sein Wahlversprechen, die bestehenden Sperren mit einer unüberwindlichen Mauer hochzurüsten, noch nicht gegeben hatte, unternommen. Für die Radio Hour des „New Yorker“ hat sie überdies in Tombstone, Arizona, und Shakespeare, New Mexico, einen Podcast mit O-Tönen aufgenommen.

In diese keineswegs nur imaginierte Road Novel schieben sich, kapitelweise über das Buch verstreut, die „Elegien für verlorene Kinder“ einer zweifelsfrei fiktiven Ella Camposanto. Diese Erzählungen um die Odyssee der unbegleiteten Kinder bilden einen Roman im Roman, der wiederum Passagen realer Werke enthält, aus Jerzy Andrzejewskis „Pforten des Paradieses“ etwa, Ezra Pounds „Cantos“ oder aus Juan Rulfos „Pedro Páramo“, dem Schlüsselwerk des modernen mexikanischen Romans, in dem die Schreckensherrschaft des langjährigen Präsidenten Porfirio Díaz einen magischen Nachhall bekommt.

[Valeria Luiselli: Archiv der verlorenen Kinder. Roman. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. Kunstmann Verlag, München 2019. 432 Seiten, 25 €]

Die Perspektiven wechseln abrupt

Und dann gibt es auf halber Strecke einen abrupten Perspektivenwechsel. Statt der Mutter erzählt auf einmal der Sohn. Echos früherer Szenen und Formulierungen stellen sich ein, die allerdings daran kranken, dass sie dem Zehnjährigen Wörter und Erfahrungen zugestehen, die er nur schwerlich haben kann, und ihm sogar einen 20-seitigen Stream-of-Consciousness-Rausch zumuten, der allzu sehr nach dem Ehrgeiz der Autorin klingt.

Angesichts dieser vielfach verschachtelten Ebenen liest sich dieser Roman erstaunlich leicht. Zusätzliche Spannung verleiht ihm die Suche nach zwei verschollenen Schwestern aus Guatemala, die die Stiefgeschwister schließlich auf eigene Faust betreiben. Ohne Wissen der Eltern stehlen sie sich davon und ziehen los in den Echo Canyon von New Mexico, wo sie die beiden vermuten.

Auch als politischer Roman, der scheinbar unüberbrückbare Gegensätze von engagierter und autonomer Literatur in sich zusammenfallen lässt, hat er große Verdienste. In ihrem Ehrgeiz trägt Valeria Luiselli indes schwer an ihrer literarischen Schmuggelware. Wer es – die Buchtitel in den väterlichen Schachteln zeigen es – immer nur mit den Größten aufnimmt, muss eine höhere sprachliche Dichte entwickeln, als es Luiselli gelingt.

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