zum Hauptinhalt
Ein Landwirt versprüht Herbizide. Der Romanheld stellt auf biologischen Anbau um.

© AFP

Roman von Reinhard Kaiser-Mühlecker: Der Mensch ist das größte Raubtier

Stiller Thriller: In seinem grandiosen Provinzroman "Wilderer" erzählt Reinhard Kaiser-Mühlecker von einem jungen Bauern, der seine Wut nicht im Griff hat..

Manchmal, an guten Tagen, träumt Jakob davon, ganz woanders zu sein, in einer größeren, freieren, helleren Welt. Wenn er aus seinem kleinen Tal herausfährt, öffnet sich der Blick auf das Gebirge, das in etwa dreißig Kilometer Entfernung den Horizont bildet. „Die vielen Äcker und wenigen Wiesen lagen frei da, nur hier und dort standen ein Hof oder ein Haus; die knorrigen, alten, mit Misteln bewachsenen Obstbäume wurden in dem Maß weniger, in dem die Maschinen und Feldstücke größer wurden.“ Aus dieser Perspektive sieht sein Ort, stellt Jakob verblüfft fest, so aus, wie er sich Amerika vorstellt. Rose Valley würde das Dorf dort heißen, nicht Rosental. Und er wäre Jack.

Solchen Tagträumen hängt Jakob gerne nach, es sind für ihn kleine Lebensfluchten. Denn der Held von Reinhard Kaiser-Mühleckers Roman „Wilderer“ stammt aus auch emotional beengten Verhältnissen. Lieblos geht man in dem Bauernhof miteinander um, den er sich mit seinen Eltern und anfangs auch noch mit den Großeltern teilt. Einmal vergleicht er ihn mit einem Geisterhaus, weil die Menschen, die dort leben, einer zufällig zusammengewürfelten Truppe ähneln, einander so verbunden wie Reisende, die an einer Haltestelle auf den Bus warten. Und dieser Bus taucht dann niemals auf.

Russisches Roulette im Bett

Wie satt er dieses Dasein hat, zeigt sich gleich in der Eröffnungsszene des Romans. Da wacht Jakob um vier Uhr in der Früh auf und zieht einen Revolver aus der Nachttischschublade. „Er hielt die Luft an, spannte den Finger an und betätigte den Abzug.“ Aber der Waffe, die er an seine Schläfe hält, entweicht bloß ein „Klack“. Das Urteil im Russischen Roulette lautet: weiterleben.

Zur Größe von Kaiser-Mühleckers Erzählkunst gehört, dass es ihm gelingt, die Spannung dieses Auftaktmoments über mehr als 300 Seiten zu halten, ohne die Beweggründe für das Glücksspiel mit dem Schicksal benennen zu müssen. Jakob, Mitte 20, hat Schlafprobleme und trinkt zu viel, abends flaschenweise in Form von warmem Bier, sieht sich als „Untergeher“ und „Verlierer“. Doch seine Verzweiflung zeigt er keinem. Wen sollte sie auch interessieren?

Dann aber hellt sich die Erzählung auf, als eine Malerin mit einem Stipendium ins Schulwärterhäuschen des Dorfes zieht. Katja umwirbt den Einzelgänger, der dort als Hausmeister fungiert, versucht ihn aus seiner Verpanzerung zu locken, schickt ihm Briefe und beginnt schließlich ein Praktikum auf seinem Hof. Aus Sympathie wird Liebe, ein Wort, das Jakob meidet, er spricht von Komplizenschaft. Zwei Monate nach der Hochzeit kommt Sohn Marlon zur Welt. Nach dem Tod der Großmutter erbt Jakob nicht nur das Haus und Ställe, sondern auch genug Geld, um Felder dazuzukaufen und auf biologische Tierhaltung umzustellen. Jetzt hätte eigentlich alles gut werden können.

Abseits der "Landlust"-Klischees

Reinhard Kaiser-Mühlecker ist selber Landwirt, er hat im oberösterreichischen Alpenvorland den Hof seiner Familie übernommen, genau dort, wo sein achter Roman spielt. Detailliert beschreibt er den bäuerlichen Alltag, vom mühevollen Einbringen der Weizenernte in sengender Hitze bis zum Schleifen der Eckzähne von Ferkeln, die ansonsten im Streit um die Milch das Gesäuge der Mutter zerbeißen würden. Mit „Landlust“-Hochglanzklischees hat diese Lebenswelt nichts zu tun, die in der zeitgenössischen Literatur kaum vorkommt. Viele von Jakobs Nachbarn haben bereits den Beruf gewechselt, die wegen des Klimawandels zunehmenden Wetterextreme schmälern den Profit. Trotzdem habe die Gesellschaft für Leute wie ihn, die „im Schweiße ihres Angesichts ihr Geld verdienen“, nichts als Spott übrig.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Weil Jakob ein großer Schweiger ist, besteht der Roman hauptsächlich aus kurzen Dialogen und langen inneren Reflexionen. Mitunter verdichten sich seine Gedankengänge zu Wutreden, die unausgesprochen bleiben. Jakob ergeht sich in Kriegs- und Rachefantasien, der Kipppunkt, an dem die Überlegungen in reale Gewalt umschlagen können, ist nicht weit. Weil sein Hund das Wildern nicht sein lassen kann und ein Rehkitz reißt, erdrosselt er ihn mit einem Abschleppseil. Und bei einer Bergwanderung – deren 30-seitige Schilderung ist ein Glanzstück des Buchs – hat Jakob schon den Stein in der Hand, mit dem er seine Schwester erschlagen möchte, die ihn mit spitzen Bemerkungen gereizt hat. Was er dann aber doch nicht tut.

Zum Krimi verdichtet

Schon bei seinem letzten Roman „Enteignung“, in dem ein gescheiterter Reporter in das Dorf seiner Kindheit zurückkehrt, hatte Kaiser-Mühlecker eine Geschichte um Höfe und Felder als Spekulationsobjekte zu einem Krimi verdichtet. „Wilderer“ ist nun ein noch etwas stillerer Thriller. Ganz behutsam pegelt der Autor die Spannung nach oben, indem er die Schere zwischen Jakobs Eigen- und der Außenwahrnehmung immer weiter auseinanderklaffen lässt. Ausgerechnet als er „etwas wie einen Frieden“ in sich gefunden hat, nachdem sein Hof auf einem Fest als „Betrieb des Jahres“ gefeiert wurde, wenden sich die Menschen von Jakob ab, weil sie ihn wunderlich finden. Katja, seine Frau, beginnt sich vor ihm zu fürchten.

Kaiser-Mühlecker benutzt altertümliche Wendungen wie „reinleeren“ (für eingießen) oder „heraussterben“ (ein Zimmer als Todesfall verlassen), seine langen, elegant gewundenen Sätze wirken altmeisterlich. Bei der Bergwanderung entdeckt Jakob in der Hütte eines Schäfers ein Buch von Adalbert Stifter, der für seine seitenlangen Naturbeschreibungen gleichermaßen bewundert wie gefürchtet wird.

[Reinhard Kaiser-Mühlecker: Wilderer. Roman. S. Fischer, Frankfurt am Main 2022. 350 Seiten, 24€]

Kaiser-Mühlecker fasst sich kürzer, doch wenn er etwa den Übergang vom Winter in den Frühling impressionistisch tupfend ausmalt, glaubt man die Luft beinahe riechen und schmecken zu können: „Morgens schwebten, bewegungslos, oft Nebelfetzen über den Tümpeln, die sich auf der zertrampelten Wiese gebildet hatten. (...) Auf manchen Bäumen hingen noch, rotschwarz und verschrumpelt, Äpfel. Dort, wo es im Herbst nicht noch einmal gemäht worden war, lag das Gras fahlgelb, wie über sich selbst gestürzt, am dunklen, nassen Boden.“

So gelingt es Kaiser-Mühlecker, ein längst schon tot geglaubtes Genre, den Heimatroman, wiederzubeleben. Heimelig geht es bei ihm nicht zu. Die Leute vergäßen, dass Hunde Raubtiere seien, heißt es einmal. Das allergrößte Raubtier ist allerdings der Mensch.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false