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Die Berliner Autorin und Schauspielerin Katerina Poladjan.

© Andreas Labes

Roman von Katerina Poladjan: Ich bin kein Baum

In Katerina Poladjans Roman „Hier sind Löwen“ reist eine Buchrestauratorin nach Armenien. Und wird mit der schwierigen Geschichte des Landes konfrontiert.

Auf antiken und mittelalterlichen Weltkarten gibt es weiße Flecken, die unbekannte Länder und Regionen markieren. „Hic sunt leones“, steht oft dort: Hier sind Löwen. Ist Armenien ein solches Land? Auf jeden Fall für die Berliner Buchrestauratorin Helene, die schriftfixierte Ich-Erzählerin von Katerina Poladjans drittem Roman „Hier sind Löwen“.

Die empfindsame Hauptfigur hat ein Stipendium erhalten, um im Zentralarchiv für armenische Handschriften in Jerewan besondere Techniken der Erhaltung und Wiederherstellung alter Codices und Bücher zu erlernen: „Ich rieche Erde, Ei und Pilz, Holzstaub und altes Tier … Siebzehntausend Handschriften und Bücher werden in den Kellern und Kammern des Archivs verwahrt, Karten, Folianten, Stiche in Regalen, Schubladen und Panzerschränken, und immer deutlicher höre ich im Rauschen der Lüftungsanlage das Raunen ihrer Worte und Stimmen“.

Evelina, ihre Betreuerin im Archiv, überlässt der deutschen Restauratorin ein kostbares armenisches Evangeliar – man befindet sich in einem seit Urzeiten vom Christentum durchdrungenen Land.

Helene heißt übrigens mit Nachnamen Mazavian, was auf armenische Vorfahren schließen lässt: „Mein Nachname war plötzlich in phonetischer Gesellschaft.“ Armenisch spricht sie nicht, wohl aber Englisch, Russisch und Türkisch. „Wo sind Ihre Wurzeln, Helen?“, fragt Evelinas Ehemann Araik. „Ich bin kein Baum“, antwortet Helene. Araik jedoch stellt fest: „Sie weichen aus“.

Die Leserinnen und Leser der 1970 in Moskau geborenen Berliner Schauspielerin und Autorin Katerina Poladjan können der Wurzel-Frage, die man allen Migranten irgendwann stellt, leider ebenso wenig ausweichen wie den ungemein detaillierten Schilderungen intimer Geheimnisse der Buchrestauration.

Auch an den sehr ausführlichen, die Kitschgrenze immer wieder krass überschreitenden märchenhaften Passagen, die die Erzählung vom unendlichen Leidensweg des armenischen Volkes illustrieren und überhöhen, kommen sie nicht vorbei.

Brüderchen und Schwesterchen irren seitenlang mutterseelenallein durch die Berge, in der Zeit des Ersten Weltkriegs auf dramatischer Flucht vor Hunger und Tod, immer mit einem heiligen Buch im Rucksack, und am Ende überleben sie auf wundersame Art und Weise. Sehr traurig das alles, aber wegen seiner mal banalen, mal überpathetischen sprachlichen Gestalt oft auch ärgerlich.

Keine Gegenwart ohne Geschichte

Die sich durch die Jahrhunderte hinziehende Verfolgung der Armenier, der in der deutschen Literatur unter anderem von Franz Werfel und Armin T. Wegner geschilderte Genozid im Kontext von Atatürks Staatsgründung, die Unfreiheit und Unterdrückung zu Zeiten der Sowjetunion sowie der weiter anhaltende Krieg mit dem islamischen Nachbarland Aserbaidschan sind wichtige Themen dieses Romans, und dass der heilige Berg Ararat, an dem angeblich Noahs Arche strandete, heute auf türkischem Staatsgebiet liegt, hat Folgen.

[Redaktioneller Hinweis: In einer früheren Version dieses Artikels schrieb der Autor vom Fast-Genozid an den Armeniern. Wir haben dies geändert.]

Auch für Helene, die sich mithilfe eines Fotos, das ihr ihre Mutter Sara mitgegeben hat, auf die Suche nach Verwandten machen und dazu auch auf die türkische Seite des Bergs reisen wird.

Wobei die Romanheldin, die „mit Bildern von toten armenischen Kindern aufgewachsen“ ist, nicht nur eine an der Vergangenheit interessierte Bücherfrau ist, sondern auch gerne in Nachtbars trinkt und dabei dem Jazz-Bassisten Levon zuzwinkert. Berlin ist schließlich weit weg, ihr dortiger Partner Danil ist es auch.

Doch keine Gegenwart ohne Geschichte: Levon ist zwar Musiker, aber auch Offizier, und bald wird er sterben. „Was wusste ich über Bergkarabach?“ Ein heilloser Marionettenkrieg sei das, meint Evelina: „Die Oligarchen sollte man an die Front stellen.“

Hoffnung für Armenien gibt es kaum, nur die Sehnsucht danach: „Der Mensch war gut, nur manchmal vergaß der Mensch, dass er gut war.“ Viele, zu viele poetisch gemeinte Sprachgirlanden wabern durch diesen Roman, der es bis auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis schaffte.

Klaus Hübner

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