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Warten auf die Steuer. Die Tristesse in Ämtern wie der amerikanischen Finanzbehörde IRS ist Thema in David Foster Wallaces Buch.

© REUTERS

Roman von David Foster Wallace: Das graue Herz der Gesellschaft

Das literarische Amerika feiert David Foster Wallace. Sein nachgelassener Roman „The Pale King“ beschreibt die Freuden des Banalen.

Von Gregor Dotzauer

Kaum zu fassen, wie sich plötzlich alle einig sind. Das ganze literarische Amerika kniet nieder vor einem Mann, der in höheren Kreisen lange als rein popkulturelles Phänomen, als mühsamer Avantgardist oder besessener Manierist galt. Die Heiligsprechung von David Foster Wallace scheint kurz bevorzustehen. Er war „der größte Schriftsteller seiner Generation; alles in allem wahrscheinlich ihr größter Kopf“, erklären die Philosophen Hubert Dreyfus und Sean Dorrance Kelly in ihrem viel diskutierten Buch „All Things Shining“ (Free Press). Mit einer Strategie der unscheinbaren Sensationen versuchen sie dem „Nihilismus der Gegenwart“ entgegen zu treten, ohne ins Religiöse zu verfallen.

„The Pale King“, der unvollendete Roman, den Michael Pietsch aus dem Nachlass von Wallace zusammengestückelt hat, kommt ihnen da gerade recht. Er nimmt für sie den spirituellen Kampf gegen die Qual der Wahl auf, die säkulare Zeiten im Angesicht schier unendlicher Lebensalternativen jedem Einzelnen auferlegen: Auge in Auge mit der Langeweile inmitten totaler Überreizung, allein mit den alltäglichen Routinen.

Keine Zeitung, kein Magazin, das sich in den letzten Wochen, noch vor dem offiziellen Erscheinen des „Pale King“, nicht enthusiastisch geäußert hätte. Sogar Michiko Kakutani, die um kein Urteil verlegene, aber stilistisch notorisch temperamentlose Chefkritikerin der „New York Times“, ließ sich von der Wallace-Skeptikerin zur Verehrerin bekehren. Wer sich einen Eindruck von der Hysterie der Fans verschaffen will, braucht sich nur auf die Mailing-Liste von „Wallace-I“ setzen zu lassen. Dort wird jedes Gerücht, jeder vorab gedruckte Satz, jedes geplante Symposion, jeder Podcast einer Gedenkveranstaltung wie diejenige der Lannan Foundation (www.lannan.org) mit Rick Moody so uferlos kommentiert, dass man reumütig zu den Wallace-News zurückkehrt, die „The Howling Fantods“ (www.howlingfantods.com/dfw) seit Jahren zuverlässig filtern und aufbereiten.

Im September 2008 hatte sich David Foster Wallace mit 46 Jahren in seinem Haus im kalifornischen Claremont erhängt. 20 Jahre lang war es ihm gelungen, mit dem Neuroleptikum Nardyl eine schwere Depression in Schach zu halten. Als er sich stark genug fühlte, das Medikament abzusetzen, verlor er das innere Gleichgewicht – und Nardyl bei der Wiedereinnahme die Wirkung. Nach fast einem Jahr der Schlaflosigkeit, missglückter Therapien und völliger Zerrüttung suchte er im Tod die Befreiung.

Der posthume Triumph des „Pale King“ lässt sich vom Mythos des gepeinigten Genies wohl nicht ganz trennen. Man kann Büchern wie David Lipskys „Although Of Course You End Up Becoming Yourself“ (Broadway), dem Bericht von einer Lesereise mit Wallace, oder D.T. Max’ im Entstehen begriffener Biografie zwar nicht vorwerfen, ihren Protagonisten romantisieren zu wollen. Doch je mehr man über die Person erfährt, desto eher neigt man dazu, dieses Wissen ins Werk zu projizieren – bis hin zu dem Kurzschluss, dass die Parade der seelisch demolierten, pathologisch gestörten Figuren, die seine Bücher bevölkern, autobiografisch zu lesen sei. Es handelt sich um die Diagnose eines gesellschaftlichen Zustands, den manche eben am eigenen Leib ausleben müssen.

Die vor zwei Jahren erschienene deutsche Übersetzung seines über tausendseitigen Monumentalwerks „Unendlicher Spaß“ tat das aus der Perspektive einer in die nahe Zukunft verlegten, bis in den letzten Winkel durchkommerzialisierten Entertainmenthölle. Die 530 Seiten des „Pale King“, dieses Vermächtnisses, von dem nur die Umrisse überliefert sind, begibt sich nun ans andere Ende der Erregungsskala, hinein in eine tiefe existenzielle Langeweile. David Foster Wallaces „letztes und ambitioniertestes Unternehmen“, wie es im Klappentext heißt, ist eine Expedition ins graue Herz der Gesellschaft, in die Steuerbehörden des amerikanischen Internal Revenue Service (IRS), eine Welt, die man sich trotz der Abwesenheit offenkundiger Schrecken als Überbietung des Herzens der Finsternis vorstellen muss.

„The Pale King“ ist ein Roman aus der Prähistorie unserer unmittelbaren Gegenwart, den 80er Jahren. Auf einem Außenposten der IRS in Peoria, Illinois, begegnet man, in der ganzen Polyphonie ihrer Stimmen, einer Schar von Steueragenten. Jeder dieser Papierhengste bringt seine eigene Vergangenheit und sein eigenes Schicksal mit. Aufs Ganze gesehen, sind sie aber alle neurotische ADHS-Kandidaten, zerrissen zwischen dem Wunsch, Ruhe zu finden, und der Ahnung, dass dies die reine Folter wäre.

„Dieser Terror der Stille, der keine Ablenkung mehr bietet“, heißt es einmal. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand wirklich glaubt, die heutige ,Informationsgesellschaft’ habe nur mit Information zu tun. Jeder weiß, dass sie mit etwas anderem, viel Tieferem zu tun hat.“ Wie „Unendlicher Spaß“ erzählt auch „The Pale King“ immer wieder von Drogen: nicht von Heroin, kaum von Kokain, der 80er-Jahre-Droge schlechthin, etwas ausführlicher vom Kiffen, vor allem aber von einem Amphetamin namens Obetrol. Auf dem Weg zum konzentrationsfördernden Ritalin unserer Neuro-Enhancement-Gesellschaft ist sie das fehlende Glied in der medikamentösen Anpassung.

Obetrol steigert weniger das Selbstbewusstsein als die Fähigkeit, sich selber im Erleben von Sinnesreizen bewusst wahrzunehmen – ein Vorzug, der jedoch leicht in einen Nachteil umschlagen kann: „Das Gewahrsein der Dinge konnte gewissermaßen in eine Spiegelhalle voller bewusster Sinnesreize und Gedanken hinein explodieren und weiter in ein Gewahrsein des Gewahrseins ihres Gewahrseins. Dies war wahllose Aufmerksamkeit, also der Verlust der Fähigkeit, sich auf eine einzige Sache einzustellen und zu konzentrieren.“

Wallace macht sich einen Spaß daraus, seinen Roman in der fiktiven Selbstreflexion eines Namensvetters als dokumentarisch auszugeben. Bei allen Studien, die er dafür getrieben hat, kann davon natürlich keine Rede sein. Die metafiktionale Verspiegelung, die er betreibt, arbeitet schon an ihrer eigenen Aufhebung und will über das Spielerische hinaus: Sie ist das Nächste zu einem Realismus, der den Bewusstseinsprozessen, um die es hier geht, gerecht wird. Das Erfundene, das Essayistische und das zutiefst Persönliche der Vision sind zu gleichen Teilen enthalten.

„Zwischen dem Persönlichen und dem Öffentlichen“, sagt der fiktive Wallace, „gibt es keinerlei Trennungslinie mehr, besser gesagt, zwischen dem Privaten und dem Performativen. Offensichtliche Beispiele sind Blogs, Reality TV, Handykameras oder Chatrooms… nicht zu reden von der dramatisch gestiegenen Popularität des Memoir als literarischem Genre.“

Manuskriptseite aus "Infinite Jest".
Manuskriptseite aus "Infinite Jest".

© Harry Ransom Center of The University of Texas at Austin

„The Pale King“ ist leider Stückwerk geblieben. Im Harry Ransom Center der University of Texas in Austin, wo Wallaces Nachlass lagert, werden demnächst Materialien ausgestellt, die seine Entstehung illustrieren; Bruchstücke zeigt schon die aktuelle Schau „Unbound“ (www.hrc.utexas.edu).

Doch man sollte nicht so tun, als sei „Unendlicher Spaß“ im Vergleich mit dem „Pale King“ ein Ganzes. Wie viele Durststrecken, Sackgassen und Wortschotterpisten muss man überwinden, um dieses fraktal zersplitterte Textgelände zu erobern. Eine höhere Geschlossenheit entsteht nur dadurch, dass Wallace es stilistisch poliert aus der Hand gegeben hat, während er den Steinbruch des „Pale King“ einfach verlassen hat. Man kann die insgesamt 50 Brocken und Kiesel in jeder beliebigen Reihenfolge lesen – oder auch nur einzeln.

Von der reinen Stilübung über bühnenreife Dialogschlachten bis zu Glanzstücken wie Kapitel 36, das von den verzweifelten Verrenkungen eines Jungen erzählt, der jeden Zentimeter seines Körpers mit seinen Lippen berühren will, ist die ganze sperrige Heterogenität von Wallaces Kunst enthalten – nur weitgehend ohne die Wucherungen seiner geliebten Fußnoten. Sie ist komisch in dem Sinn, in dem auch der von ihm bewunderte Kafka komisch ist, und anrührend wie nie zuvor in der teils bis zur Tonlosigkeit herunterregulierten Verzweiflung und den überraschend aufblitzenden Freuden des Banalen – von der befürchteten Leichenfledderei keine Spur.

Die Welt, die aus diesem Trümmerfeld ersteht, ist ein vollgültiger Entwurf. Wer diesen Schlusspunkt nicht kennt, wird nie verstehen, was David Foster Wallace in seinen letzten Jahren umtrieb.

David Foster Wallace: The Pale King. Little, Brown and Company. New York 2011. 548 Seiten, 27,99 USD.

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