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Arbeiterinnen zerlegen Elektronikmüll in Guiyu, südwestlich von Shantou – dem Vorbild für Ma Jians „Himmelsstadt“.

© Johannes Eisele/AFP

Roman "Die dunkle Straße" von Ma Jian: Durchtrennt die Eileiter der Armut

Von den bitteren Folgen der Ein-Kind-Politik: Der Exilchinese Ma Jian zeichnet im Roman „Die dunkle Straße“ ein finsteres Porträt seines Landes.

Von Gregor Dotzauer

Unter allen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die im Römischen Statut aufgelistet werden, ist kaum eines, das sich nicht in China finden würde. Das Verschwinden in schwarzen Gefängnissen, der willkürliche Freiheitsentzug mit Folter, die Versklavung in Arbeitslagern, Zwangsabtreibung und -sterilisation: All das gehört zum Arsenal eines Regimes, dem die Gewaltenteilung so fremd ist wie außergerichtliche Strafen vertraut. Dazu kommt die Selbstherrlichkeit, mit der es etwa gegenüber den Uiguren im autonomen Gebiet Xinjiang eine Apartheids-Politik betreibt. Wenn auch nicht alle Brutalität der staatlichen Tyrannei entspringt, so gehört sie doch zu einem System, das massenhaft korrupte Beamten und übergriffige Polizisten herangezüchtet hat. Und es macht die Sache nicht besser, dass es eine unbehelligte Mehrheit gibt, der es gelingt, davor die Augen zu verschließen. Sie weiß insgeheim: Es kann jeden treffen.

Dieses China ist unheimlich genug. Ma Jian aber macht es noch unheimlicher. Bei ihm leuchtet es in den Farben von Blut und Schmutz, den toxischen Wassern seiner Flüsse, und es dampft in den Dioxinnebeln der Elektronikmüllkippen von Guangdong. Fernab von Peking, Schanghai und Shenzhen erstreckt es sich als ein Reich ewiger Finsternis, das keinen Schritt über die mörderischsten Zeiten der Kulturrevolution hinausgekommen zu sein scheint. „Die dunkle Straße“ ist der schwärzeste Roman, den Ma Jian je geschrieben hat, ein in der Aufhäufung von Unglück maßloses Buch, das der Maßlosigkeit der 1979 eingeführten und neuerdings aufgeweichten Ein-Kind-Politik gerecht zu werden versucht.

In Ma Jians China gelten abgetriebene Föten als fruchtbarkeitssteigernde Delikatesse. Behinderte Kinder werden an Bettlerbanden verkauft, die ihnen zur Umsatzsteigerung sämtliche Knochen brechen, falls es nicht schon die Eltern getan haben. Lebensmüde gehen ins Wasser, statt sich mit Pestiziden zu vergiften oder zu erhängen, nur damit die Hinterbliebenen keine Einäscherung zahlen müssen – was wiederum den Leichenfischern Konjunktur verschafft. Nichts davon ist ausgedacht, alles findet sich in Zeitungen, Blogs und Foren dokumentiert. Was dort jedoch oft mit fröhlichem Entsetzen dargeboten wird, gewinnt bei Ma in der Kette der Verheerungen eine empathische Menschlichkeit, die über alles Tatsächliche hinaus die künstlerische Vision des Romans ausmacht.

Ma hat das meiste mit eigenen Augen gesehen

Es führt deshalb nicht weit, entscheiden zu wollen, ob China wirklich so ist, wie Ma es schildert. Ja, genau so ist es. Der Autor hat das meiste mit eigenen Augen gesehen, sich vieles vor Ort erzählen lassen und den Rest nachgelesen. Und nein, so ist es nicht. Die tragischen Kräfte, die das Schicksal der Bäuerin Meili, ihres älteren Mannes Kongzi, eines Lehrers, und der gemeinsamen Tochter Nannan bestimmen, ist dramaturgisch hergestellt. Die Ungläubigkeit, mit der man verfolgt, wie Ma die drei mit einer Hiobsbotschaft nach der anderen drangsaliert, beruht indes auf einer so gekonnten suspension of disbelief, dass man ihr sogar die letzte Steigerung abnimmt: Meilis fünf Jahre währende Schwangerschaft mit ihrem vierten Kind, die mit der Totgeburt eines außerirdisch anmutenden Wesens endet.

Ma gibt einem erstickenden Netz von Unbildung, sexueller Unaufgeklärtheit, unentrinnbar traditionellen Geschlechterrollen, staatlicher Schreckensherrschaft, Denunziantentum und krimineller Machenschaften ein Gesicht – und das mit einer bis ins Groteske reichenden physischen Direktheit, die Verletzungen bis in den letzten Körperwinkel nachspürt.

"Durchtrennt die Eileiter der Armut"

Drei Menschen auf der Flucht vor den Nachstellungen der Familienplaner: Das gibt dem Roman, der eine erzählte Zeit von neun Jahren umfasst, die Bewegungsrichtung vor – und die Gelegenheit, unterwegs eine Vielzahl von Wirklichkeiten aufzusammeln. Anfangs ist Meili zum zweiten Mal schwanger; sie soll endlich den männlichen Nachkommen gebären, den sich Kongzi, ein stolzer Nachfahre von Konfuzius in der 76. Generation, so sehnlich wünscht. Doch ohne Geburtserlaubnis für „Glücksjunge“ bleibt ihnen nur das Versteckspiel. „Durchtrennt die Eileiter der Armut, setzt die Spirale des Reichtums ein“, lautet die Parole, der die Häscher ohne Rücksicht auf Leib und Leben der Frauen nachkommen.

Die drei werden Flussnomaden auf dem Yangtze und entkommen doch nicht. Einmal gestellt, wird der Stammhalter erst mit einer Intrauterin-Injektion durch die Bauchdecke halbtot gespritzt, dann mit der Geburtszange herausgezerrt und schließlich erdrosselt, bevor er in einem Plastiksack landet. Die Plazenta wird für den Parteisekretär reserviert. Meilis nächstes Kind, „Wassermädchen“, kommt mit sechs Fingern und einer Ausbuchtung am Kopf zur Welt. Kongzi verkauft die Tochter später an die Fürsorgestelle. Es ist einleuchtender Irrsinn, dass Meili ihr viertes, das „Himmelskind“, den Zumutungen außerhalb des Mutterleibs gar nicht erst aussetzen will.

Bis heute stehen alle Bücher von Ma Jian in China auf dem Index

Hellsichtige Wut. Ma Jian.
Hellsichtige Wut. Ma Jian.

© Ulrich Baumgarten/Getty Images

Bis heute darf kein einziges von Ma Jians Büchern in der Volksrepublik erscheinen. Doch ihre Unversöhnlichkeit mit seinem Dissidententum zu erklären, reicht nicht aus. 1953 in der Hafenstadt Qingdao geboren, geriet er Anfang der achtziger Jahren in Konflikt mit den Behörden, bevor er sich 1987 weiterem Ärger durch die Übersiedlung nach Hongkong entzog. 1989 nahm er an den Protesten auf dem Tiananmen-Platz teil, über die er später den epochalen Roman „Peking Koma“ schrieb. Als die britische Kronkolonie 1997 wieder Teil der Volksrepublik wurde, ging er mit einem Umweg über Deutschland nach London. Dort lebt er seit 1999 mit seiner englischen Frau und Übersetzerin Flora Drew und den gemeinsamen vier Kindern.

Das Exil gibt ihm eine Freiheit zu radikaler Kritik, von der er auch in Diskussionen gerne Gebrauch macht. Doch sie wäre wenig wert, würde sie nicht von einem Blick getragen, der sowohl das Barbarische des kommunistischen China kennt wie das überraschend Solidarische, das daneben existiert. Ein Blick, in dem sich die Chinesen, die seine Bücher in taiwanischen oder englischen Ausgaben in die Hände bekommen, sehr wohl erkennen. Schon „Red Dust“, der fiktionalisierte Bericht einer dreijährigen Reise durch das Land in den Achtzigern – nach wie vor ein Grundbuch für jeden Chinareisenden – bezog daraus seine Kraft.

Im Vergleich wäre es ungerecht, in Literaturnobelpreisträger Mo Yan nur einen Kompromissler zu erkennen. Er hat den Folgen der Ein-Kind-Politik, ohne sie zu beschönigen, in seinem jüngsten Roman „Frösche“ die ihm eigenen, sehr viel satirischeren Töne abgewonnen. Dafür erhielt er mit dem Mao-Dun-Literaturpreis eine der höchsten Auszeichnungen des Landes. Ob man seinen manirierten Stil mag oder nicht: Auch er entwirft eine Version der Geschichte.

Das System hat Traumata hinterlassen

Mas „Die dunkle Straße“, 2013 zunächst auf Englisch erschienen, trifft nicht mehr den Stand der noch im selben Jahr gelockerten und regional seit jeher unterschiedlich gehandhabten Ein-Kind- Politik: Städtische Paare, die beide Einzelkinder waren, dürfen ein zweites Kind zeugen – sie können es angesichts exorbitanter Mieten oft nur nicht mehr. Ja die Familienplaner gehen mittlerweile mit Kampagnen für mehr Kinder hausieren: Nun macht ihnen die Umkehrung des demografischen Trends Angst. Die Traumata, die das System hinterlassen hat, werden China noch Jahrzehnte beschäftigen – von den psychosozialen Konsequenzen, die ein Land voller Prinzen und Prinzessinnen mit sich bringt, nicht zu reden.

Vor allem schreibt Ma – der Titel seines Romans bezeichnet im Chinesischen auch den weiblichen Geburtskanal – über eine staatliche Leibeigenschaft, die im Prinzip noch immer gilt. Und er erfindet mit Meili, der Ungebildeten mit zähem Aufstiegswillen, und Kongzi, dem scheinbar Überlegenen, prototypische Eheleute, in denen sich ein erstarkendes weiblichen Selbstbewusstsein an einer hilflosen Männlichkeit reibt.

Was diesen Roman von bitterstem Sozialrealismus mit Umschlag ins Surrealistische aber endgültig über seinen Grundstoff hinaushebt, ist die Menge an Alltagsdetails, die er verarbeitet. Das Elend der Wanderarbeiter, die ihre Kinder mangels hukou, dem Eintrag ins Melderegister, auf kostspielige, oft illegale Schulen schicken müssen. Die kleine Gebühr, die jedes Gesetz außer Kraft setzt. Das Werkeln von Prostituierten in Frisiersalons. Das Demütigende sogenannter Verwahr- und Rückführungszentren für missliebige Bürger. Das Warenfälscherparadies.

Ma Jian erzählt seine Geschichte in einem zupackenden Dauerpräsens

Wer immer hier aber schwer trägt, versucht gleichzeitig, sein Leben in die Hand zu nehmen. Am bewegendsten evoziert Ma Jian die fatalen Segnungen von „Himmelsstadt“, einer nach dem Vorbild von Guiyu modellierten Industriemülldeponie, die Tausenden unter Einbuße ihrer Gesundheit eine Lebensgrundlage gibt. Die verseuchte Luft verspricht den Frauen Schutz vor jeder Schwangerschaft. Die Vögel fressen Plastikgranulat und Schrauben, und Meili bringt es fertig, im Wok zuerst ein paar Stecker aufzukochen, bis sich die Metallstifte aus dem Plastik lösen, bevor sie sich ein Ei brät.

Ma Jian erzählt dies alles in einem zupackenden Dauerpräsens aus personaler Sicht, zu dem sich, typografisch abgesetzt, ein aus der Zukunft herbeischwebender allwissender Kindsgeist gesellt – die Stimme des ermordeten „Glücksjungen“. Er fungiert als Kamerakran und Körpersonde, spinnt den Erzählfaden ansonsten aber chronologisch weiter. Es ist, als hätte Ma ein dezidiert literarisches Verfahren gesucht, das jeden Verdacht eines journalistischen Herangehens zerstreut. Falls dies seine Sorge war, so ist sie unberechtigt. Allein die Zusammenschau der unterschiedlichen Welten in einer Fiktion macht „Die dunkle Straße“ zu einem Roman von verstörender Wucht, der sich um so etwas wie seine Modernität keine Gedanken machen muss.

Ma Jian: Die dunkle Straße. Roman. Aus dem Englischen von Susanne Höbel. Rowohlt, Reinbek 2015. 491 Seiten, 24,95 €. – Der Autor ist am 11. September Gast des Internationalen Literaturfestivals Berlin

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