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Ulla Lenze wurde 1973 in Mönchengladbach geboren. Josef Klein, der Held ihres Romans, war ihr Großonkel.

© Julien Menand/Klett-Cotta

Roman "Der Empfänger" von Ulla Lenze: Zaungast des Lebens

Nazis vor Wolkenkratzern: Ulla Lenze erzählt in „Der Empfänger“ von einem deutschen Spionagering im New York des Jahres 1941.

Die Ankunft: ein überwältigender Augenblick. Fünf Tage hatte die Überfahrt gedauert, dann wuchs die Stadt vor ihnen aus dem Meer empor. „Inzwischen schob sich der Ozeandampfer so nah an die Wolkenkratzer heran, dass er die Stockwerke zählen konnte, die wie unzählige Augen auf sie gerichtet waren.“

Josef Klein neigt nicht zu emotionalem Überschwang, doch die Skyline von New York, ihre „Erhabenheit, das Majestätische“, haut ihn um. Ellis Island, wo ihn ein Inspektor der Einreisebehörde zur Fähre durchwinkt, ist 1925 für den Auswanderer das Tor zur Freiheit.

Rückkehr als Gefangener

Zwanzig Jahre später, 1945, kehrt Klein nach Ellis Island zurück, aber diesmal als Gefangener. Wie zum Hohn fällt sein Blick nun jeden Morgen durchs Schlafsaalfenster auf die Freiheitsstatue und dahinter die „aus dem Wasser sprießende Stadt, ihre schlanken Türme, dicht beieinander wie luftanhaltende Menschen im überfüllten Fahrstuhl“. New York, Ziel seiner Sehnsucht, ist nun für ihn unerreichbar. Verlassen wird der als Landesverräter Verurteilte, dem man die Aufenthaltsgenehmigung aberkannt hat, die Insel in die andere Richtung, abgeschoben nach Deutschland.

Josef Klein ist der Held von Ulla Lenzes Roman „Der Empfänger“. Das Buch, eine furiose Mischung aus Familiengeschichte und Agententhriller, erzählt von einer deutschen Spionageorganisation, die von New York aus militärisches Geheimmaterial an die Nationalsozialisten in Berlin liefert. Klein spielt dabei eine Schlüsselrolle. Der begeisterte Amateurfunker baut für die Gruppe einen tragbaren Kurzwellensender, der nicht geortet werden kann, und übermittelt ihre chiffrierten Nachrichten per Morsezeichen. Das „tänzelnde Tuut-Tuut“ des Morsens hatte ihn schon in Deutschland mit der Welt verbunden und das Fernweh in ihm geweckt. Jetzt wird es ihm zum Verhängnis.

Dem elektrischen Stuhl entkommen

Der Duquesne-Spionagering, benannt nach ihrem Anführer Fritz Duquesne, hat tatsächlich existiert. Er flog im Juni 1941 auf, kurz bevor das Deutsche Reich den Vereinigten Staaten den Krieg erklärte. Nur deshalb kamen die 33 deutschen Spione mit Haftstrafen davon. Unter Kriegsrecht wäre Josef Klein, der zu einer fünfjährigen Gefängnisstrafe verurteilt und anschließend nach Ellis Island verbannt wurde, wohl auf dem elektrischen Stuhl gelandet. In den USA ist der bislang größte aufgeklärte Spionagefall ihrer Geschichte bis heute unvergessen, er stieg sogar zu einem Teil der Popkultur auf. Bereits 1945 drehte Henry Hathaway den Film noir "Das Haus in der 92. Straße" darüber.

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Ulla Lenze hat einen besonderen Zugang zu dem Stoff: Josef Klein war ihr Großonkel. Bei der Arbeit an dem Buch konnte sie auf 180 Briefe zurückgreifen, die ihr Großvater und der Großonkel einander geschrieben haben. Ihr Protagonist ist schwer zu greifen, er beweist erstaunliche Anpassungsfähigkeit. Josef Klein verwandelt sich in New York in Joe, der es dort allerdings auch bloß bis zum Auslieferungsfahrer einer Druckerei bringt. Am Ende, als er in Costa Rica gestrandet ist, heißt er José.

Der reiche Onkel aus Amerika gehört zu den mythischen Figuren der Nachkriegsjahre. In Filmen taucht er wie ein Deus ex Machina auf, um seinen Wohlstand mit den Daheimgebliebenen zu teilen. Als Josef Klein 1949 zur Familie seines Bruders Carl ins zerbombte Neuss zurückkehrt, verkörpert er das Gegenteil. Er hat keine Papiere, besitzt einen einzigen Anzug, und das Erste, was ihm Carl zuruft, ist: „Was bist du dünn geworden, mein Lieber!“ Kleins Leben wird zur endlosen Flucht. „Wie oft er irgendwo ankam und so tun musste, als sei es sein Zuhause“, stellt er resigniert in Costa Rica, seiner Endstation, fest.

Der arme Onkel aus Amerika

Die Geschichte springt zwischen Neuss und New York hin und her, beide Erzählstränge laufen aufeinander zu. Josef ist ein wortkarger Außenseiter, eher Zaungast als Akteur seines Lebens. „Ich mag einzelne Menschen, aber nicht viele Menschen“, sagt er. Trotzdem besucht er Anfang 1939 eine Großkundgebung des nationalsozialistischen Amerikanischen Bundes im Madison Square Garden, für den seine Druckerei Flyer mit Parolen wie „Free America!“ oder „Be united, be a Nation!“ geliefert hat.

22 000 Menschen sind zusammengekommen, über der Bühne hängt ein Bild von George Washington. Die Passage liest sich wie eine Livereportage: „Scharen von Fahnenträgern fluteten plötzlich die Gänge. Auf der Bühne tauchten Sturmtruppen auf, die Blicke ins Nichts gerichtet. Die Trommeln spielten einen Marschrhythmus, erpresserische Feierlichkeit ringsum.“ Sein Begleiter ist begeistert: „Das ist wie Nürnberg!“

22 000 Faschisten im Madison Square Garden

Eigentlich müsste Klein gefeit sein gegen die Versuchungen des Faschismus. Seit er in New York ist, weiß er, was es bedeutet, frei zu leben. Er wohnt in Harlem, umgeben von lauter Afroamerikanern, besucht Jazzkonzerte, liebt Duke Ellington. Außerdem hat er im Äther „W2DKJ“ kennengelernt, eine junge Amateurfunkerin namens Lauren aus den Catskill Mountains, die nach Manhattan zieht und seine Freundin wird. Sie demonstriert gegen Hitler, spendet Geld für Flüchtlinge, liest Bücher von deutschen Emigranten. Warum Josef trotzdem mitmacht, als ein paar angebliche Kaufleute ihn bitten, für sie Botschaften nach Deutschland zu übermitteln? Natürlich reizt ihn das Geld, aber mehr noch das Abenteuer.

Der Titel des Romans hat einen doppelten Boden. Der „Empfänger“ steht nicht nur für sein Funkgerät, sondern auch für Kleins Selbstbild. Schuldbewusstsein gibt es bei ihm nicht, er sieht sich als Techniker, der immer nur Befehle empfangen und ausgeführt hat. Eine Haltung, die typisch ist für die Nachkriegszeit. Klein distanziert sich erst in Argentinien und Costa Rica, wo ihm Altnazis begegnen, die immer noch mit „Heil Hitler“ grüßen, von den Tätern. Gefragt, ob er helfen wolle, die deutsche Regierung zu stürzen, antwortet er: „Kein Interesse.“ Das beklemmende Milieu, in dem untergetauchte deutsche Massenmörder in Südamerika auf neofaschistische Unterstützer trafen, hatte zuletzt Olivier Guez in seinem dokufiktionalen Roman „Das Verschwinden des Josef Mengele“ beschrieben.

Sätze, die poetisch leuchten

Ulla Lenze erzählt dicht und lakonisch, mancher ihrer Sätze strahlt poetisch. Die ersten vier Romane der Schriftstellerin spielten alle in der Gegenwart. „Der Empfänger“, ihr Debüt im Historiengenre, ist schon vor seiner Veröffentlichung auf großes Interesse gestoßen. Lenze hat die Rechte in zehn Länder verkauft, unter anderem nach Frankreich, Italien und in die USA (Ulla Lenze: Der Empfänger. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2020. 302 Seiten, 22 €).

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