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Blick auf den verwaisten Turm „Torre de David“ in Cáracas.

© Valery Sharifulin/Tass Publication

Roman „Damnificados“: Triumphschrift der Habenichtse

Ein Turm, in dem tausende Obdachlose eine Utopie leben: Gegenwärtig und mit historischer Kenntnis aufgeladen erzählt JJ Amaworo Wilson von Menschen, deren Lebensgrundlage der Müll ist.

Der Turm ist das drittgrößte Gebäude von Favelada, er steht am Rande der Stadt, wann er erbaut wurde, weiß niemand. „Umgeben von niedrigeren Gebäuden hatte der Monolith die Aura eines Schulhoftyrannen“, heißt es zu Beginn von JJ Amaworo Wilsons Roman „Damnificados“ . Das hat er wohl mit jenen gemein, die ihn erbauten: Die Torres-Sippe vereint alle schlechten Eigenschaften in sich, die es gibt.

Nach mehr als einer Dekade Leerstand entdecken die „Damnificados“ den Turm. Über 600 Obdachlose ziehen ein, am Ende leben an die 2000 im Turm. Ihr Anführer ist Nacho Morales. Der Krüppel wurde von einem alten Lehrer im Schilf eines Flussbettes gefunden. Später wird er Dolmetscher, arm jedoch bleibt er. Er macht aus dem Turm seine Utopie, sie übersteht große Plagen, wächst zu einem Gemeinwesen.

Das Leben in den Betonwänden ist angenehmer und sinnhafter als jenes auf der Straße. Es gibt eine Bäckerei im Turm, einen Friseursalon. Die Kinder können eine Schule besuchen, die Alten rasten unter den Bäumen, die auf dem Platz vor dem Turm angelegt wurden. Doch die Familie Torres möchte ihr Eigentum zurück. Der erste Angriff wird mithilfe derer zurückgeschlagen, die man selbst einst aus dem Turm vertrieb. Beim zweiten Sturm auf den Wolkenkratzer, so fürchten die Bewohner, wird das kaum gelingen: Eine ganze Armee, Panzer inklusive, greift an.

In der Realität verankert

JJ Amaworo Wilson, Sohn einer Nigerianerin und eines Briten, hat seine Geschichte auf drei Ebenen angesiedelt. Er berichtet chronologisch aus dem Turm und von seinen Bewohnern; er schildert, wie aus Nacho ein so weiser Mann wurde. Und er erzählt die Geschichte der „Damnificados“. Deren Leben wurde von den sogenannten „Müllkriegen“ geprägt. Müll ist für viele der Protagonisten dieses Buches die Lebensgrundlage.

Ein Wolf mit zwei Köpfen. Libellen, Ratten, Wildkatzen, sogar Krokodile, die den Bewohnern in den entscheidenden Momenten beistehen. Ein Krüppel, der eine Heilung erfährt. Landstriche, in die man eigentlich nur zum Sterben geht. Der Geist eines Goldhändlers, der ein Massaker beendet. Große Statuen von unklarer Materialität, die aus dem Nichts auftauchen: Von all dem schreibt Amaworo Wilson schnell und trotzdem mit präzisem Blick auch in die Randgebiete der Handlung. Nicht immer ist das subtil, aber stets unterhaltend.

„Damnificados“ ist dabei ganz offensichtlich in der Realität verankert. Die Geschichte eines verwaisten Turmes gibt es; der Bau am „Torre de David“ in Caracas wurde 1990 begonnen, 1994 die Arbeit eingestellt. Ab 2007 besetzten zunächst Slumbewohner den Turm, später zogen auch Angehörige der Mittelschicht ein, die sich die hohen Mieten in der venezolanischen Hauptstadt nicht mehr leisten konnten. Ab 2014 wurde das Gebäude geräumt, später von einem Erdbeben stark beschädigt.

Postnationaler Spin

Dieser Bau dient also als Vorbild. Beziehungsweise: eher als Ausgangspunkt, denn Amaworo Wilson hat der Geschichte Flügel verliehen, sie einmal um sich selbst gedreht, ihren Anfang ebenso verändert wie ihr Ende. Auch die Vorstellung, dass Politik und organisiertes Verbrechen in einem Land so stark miteinander vernetzt sind, dass die Armen sich selbst schützen müssen und die Gewalt, die ein gieriger Großgrundbesitzer anwendet, von staatlicher Seite nicht nur ohne Sanktionierung bleibt, sondern schlichtweg nicht wahrgenommen wird, hat viele Bezüge zur Realität.

Vor allem gibt Amaworo Wilson seiner Story nicht nur einen magisch überhöhten, sondern auch einen postnationalen Spin. Südamerika liegt zwar als mutmaßlicher Handlungsraum zunächst nahe. Aber schon im engsten Kern der Protagonisten gibt es auch zwei Deutsch sprechende Zwillinge und einen Asiaten. Eine Moschee, das Angebot von Köfte und Falafel in den örtlichen Speiselokalen und die Männer, die Shisha rauchen, deuten auf einen möglichen arabischen oder nordafrikanischen Hintergrund hin, einmal landet man sogar im Baskischen. So entsteht eine Triumphschrift der Habenichtse, die mit historischer Kenntnis aufgeladen und völlig gegenwärtig ist.  

JJ Amaworo Wilson: Damnificados. Aus dem Englischen von Conny Lösch. Edition Nautilus, HH 2020. 320 S., 24 €.

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