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Ein echter Vielschreiber. Paul Heyse.

© Verlag Paul Heyse

Roman „Am Götterbaum“: Die letzte Männerwelt kaputtmachen

Hans Pleschinski lädt in seinem Roman „Am Götterbaum“ zur Pilgerreise ein. Es geht in die bewegte Vergangenheit des Literaturnobelpreisträgers Paul Heyse.

Frohen Muts und heiteren Sinnes sollen wir durch seine Bücher wandeln, belebt und hochgestimmt, so wünscht es sich Hans Pleschinski, Freund französischen Esprits und galanter Sitten, wenn man den Interviews mit ihm glauben darf.

Sein neuer Roman „Am Götterbaum“ ist vielversprechend, um in diesen ablenkungsarmen Zeiten einen kleinen Ausflug in die Vergangenheit zu wagen. Vielleicht gibt es dort etwas zu entdecken? Dort, bei Paul Heyse, der 1910 als erster deutscher Schriftsteller mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde.

Anders als Thomas Mann und Gerhart Hauptmann, die Nobelpreisträger von 1929 und 1912, denen Hans Pleschinski mit „Königsallee“ (2013) und „Wiesenstein“ (2018) bereits Romane widmete, ist Paul Heyse ziemlich vergessen. Man kennt vielleicht seine Novellentheorie, die an Boccaccio demonstrierte sogenannte „Falkentheorie“, hat das ein oder andere Gedicht von ihm gelesen und gehört, dass Veit Harlans Propaganda-Film „Kolberg“ auf Heyses Drama „Colberg“ zurückgriff, was während der NS-Zeit verschwiegen wurde.

Seine Mutter, Julie Saaling, stammte aus einer zum Christentum konvertierten jüdischen Familie. Sie war die Tochter des preußischen Hofjuweliers Jacob Salomon, später Saaling, und eine Cousine von Lea Salomon, der Mutter von Felix Mendelssohn Bartholdy.

Die Metropolen-Spannung zwischen Berlin und München erweckt gleichfalls Interesse für den Roman. Paul Heyse wurde 1830 geboren und zog mit 24 Jahren nach München, angelockt von einer gut dotierten Pension des bayrischen Königs Maximilian II., vermittelt durch seinen Mentor, den Lyriker Emanuel Geibel. Ein solches Salär als aufstrebender Schriftsteller: kein schlechter Grund, um in eine andere Stadt zu ziehen.

Zentrum von Pleschinskis Roman. Die Heyse-Villa in Münchens Luisenstraße.
Zentrum von Pleschinskis Roman. Die Heyse-Villa in Münchens Luisenstraße.

©  Verlag

Paul Heyse kämpfte in jungen Jahren für die Ideale der 1848er-Revolution und engagierte sich später für Autorenrechte. In Berlin verkehrte er beim „Tunnel über der Spree“, in München war er Mitbegründer des Dichterclubs „Die Krokodile“, alles selbstverständlich reine Männerbünde.

Er war ein echter Vielschreiber vor allem von Novellen und Dramen, aber auch von Romanen, Gedichten, Essays und nebenbei ein einigermaßen einfühlsamer Familienvater.

Seine erste Frau starb früh, die zweite Ehe dauerte bis zu seinem Tod im April 1914. Von insgesamt sechs Kindern überlebten drei. Aber vor allem führte er ein gesellschaftliches Leben, von dem heute viele träumen. Das Wohnhaus, das er 1872 kaufte und umbauen ließ, wurde ein zentraler Ort künstlerischer Begegnung.

[Hans Pleschinski: Am Götterbaum. Roman. C. H. Beck, München 2021. 279 Seiten, 23 €.]

Es ist diese Villa in der Luisenstraße 22, direkt gegenüber vom heute weit bekannteren Lenbachhaus, die den magischen Kern von Pleschinskis Roman bildet. Sie ist der Anziehungspunkt, auf den alle Fäden zulaufen, ein Sehnsuchtsort, der vergangenen Glanz in die Gegenwart holen soll. Hans Pleschinski, im ländlichen Zonenrandgebiet von Niedersachsen aufgewachsen und seit Jahrzehnten in München lebend, hat seinen Roman als eine Art Pilgerreise angelegt.

Ein Hauch von Tragikomik

Verortet in der fiktionalisierten Gegenwart des Jahres 2014, verknüpft er seinen „Spaziersalon“, wie er die Figuren-Konstellation nennt, mit dem Konflikt, der sich um die Paul-Heyse-Villa rankte. Es drohte ihr Abriss. Bürgerinitiativen kämpften dagegen, der Stadtrat engagierte sich. Mittlerweile kam es zum Vergleich mit dem Investor.

Den harten Kern der Figurenkonstellation bilden drei Frauen, die quer durch die Maxvorstadt pilgern, zum vereinbarten Termin mit dem nie eintreffenden Kulturreferenten und einem Heyse-Spezialisten aus Erlangen. Ein Hauch von Tragikomik liegt in der Luft, während die drei durchs Münchner Zentrum laufen und ihre Kenntnisse zusammentragen.

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Antonia Silberstein, dreiundsechzigjährige Kommunalpolitikerin mit Furcht vor dem Ruhestand und ausgeprägter Hypochondrie, schraubt sich immer höher in ihren Plänen, was man in der Villa nach städtischer Übernahme und Renovierung alles anstellen könnte: Künstler-Ateliers, Veranstaltungen, Tagungen, Jurysitzungen und gern auch noch Kulturunterricht für Migranten.

Kulturkritische Beobachtungen am Wegesrand

Ortrud-Karen Vandervelt, eine mittags mit dem Flugzeug aus Moskau von einer Lesereise in Sibirien zurückgekehrte Schriftstellerin mit tragischer Familiengeschichte (ihr Mann kam auf der Autobahn ums Leben, als sie ihn anrief), muss den kritischen Part in all der Begeisterung übernehmen.

Als Autorin von Romanen wie „Kartause des Hirns“ und „Stuckaturen der Emotion“ hält sie Heyse für empörend gestrig und langweilig. Die avisierten Millionenbeträge sähe sie lieber in Kitas und Radwege investiert.

Komplettiert wird das Trio von der berückend bodenständigen Oberbayerin Therese Flößer. Sie bringt nicht nur sprachliches Lokalkolorit in den Roman, sondern als Bibliothekarin auch inspiriertes Basiswissen über das Werk Paul Heyses.

Nach einem Skiunfall muss sie eine klobige Fußmanschette tragen, eine kleine dramaturgische Finte, um den vergleichsweise kurzen Weg zeitlich so in die Länge zu ziehen, dass sich nicht nur seitenlang über Heyse referieren lässt, sondern auch über die zahlreichen Kulturstätten, von den Pinakotheken über die Glyptothek bis zur Antikensammlung.

Aufgeputzt wird das Geschehen von Beobachtungen am Wegesrand, meistens kulturkritischer Natur. Das Smartphone und die damit verbundenen Achtlosigkeiten sind das Lieblingsziel des Autors. Er scheint sich nicht bewusst zu sein, dass auch seine Kulturspaziergängerinnen unentwegt mit Medien hantieren, wenn sie Skripte aus dem Rucksack ziehen und aus Büchern rezitieren.

Viele Plattitüden

So sehr es einleuchtet, in einem Roman über einen historisch gewordenen Schriftsteller nach seiner Bedeutung für die Gegenwart zu fragen, so sehr ermüdet es mit der Zeit, wenn der Fortgang der Handlung mit Plattitüden gepflastert ist. Der 1956 geborene Autor neigt dazu, das weibliche Trio als Sprachrohr von Ressentiments und Banalitäten zu verwenden, vermutlich in der Annahme, ihr Geschlecht kaschiere diese Funktion.

Da wird über Berlin als „Moloch an der Spree“ gelästert oder über das LCB am Wannsee, dessen osteuropäische Ausrichtung mediterran überboten werden soll. Da geht es um den Untergang der Goethe-Institute, das mangelnde Ansehen der deutschen Sprache, überhaupt Deutschlands im Ausland.

Da wird über die vermeintliche Ignoranz männlichen Schriftstellern gegenüber geplaudert, vor allem, wenn sie ohne Migrationsbiografie an Stipendien und Preise kommen wollen. Dass sie eine Frau sei, nütze ihr wenig, weiß Ortrud Vandervelt zu berichten. Denn sie habe leider keinen „Migrationsbonus“.

Der Götterbaum stammt ursprünglich aus China

Dagegen ist der Erlanger Professor als Lichtgestalt konstruiert, ein Feuerwerk der Diversität, zu dem die Frauen bewundernd aufschauen. Harold Bradford ist der Sohn eines GI und mit einem Hongkonger verheiratet, der über einen britischen und einen deutschen Pass verfügt und ihn etwas gelangweilt begleitet.

Gemeinsam führen sie ein Ballett um des Professors Laptop auf, zur Freude des weiblichen Trios, das aber auch erfahren muss, dass es nichts Schlimmeres gibt als Frauen in Schwulen-Bars. „Sie machen die letzte Männerwelt kaputt“, meint Deng Long.

Der Götterbaum (Ailanthus altissima) stammt ursprünglich aus China und dem nördlichen Vietnam. Er gilt laut Wikipedia als „invasive Art“, die nicht angepflanzt werden soll, weil sie die Biodiversität heimischer Arten durch Verdrängung gefährdet.

Wir wollen es für Ironie halten, dass Hans Pleschinski seinen Roman „Am Götterbaum“ nennt. Er bringt uns Paul Heyse etwas näher – und lässt uns aufatmen, in Berlin zu leben, dem „Moloch an der Spree“, in dem es ruppiger zugeht als an der Isar.

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