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Robert Longo bei Capitain Petzel: Schwarzes Eis

Zustandsbeschreibung einer polarisierten Gegenwart: Zeichnungen von Robert Longo bei Capitain Petzel.

Links sind die Verluste aufgeführt: „ Verlorene Werte, verlorene Geschichte, verlorenes Handy, verlorene Freunde.“ Rechts ist der Gewinn verbucht: „Mehr Hollywood, mehr Schönheitschirurgie, mehr Beleidigungen, mehr Bärte, mehr Fernsehen“. Die Bilanz, die der amerikanische Künstler Robert Longo auf zwei Stelen für die Dekade nach dem Börsencrash zieht, fällt düster aus.

„Everything Falls Apart“ heißt die Schau über die Verwerfungen des neuen Jahrhunderts. Passend zum Titel bedecken die vergrößerten Ausrisse von Pressefotos die Scheiben der Galerie Capitain Petzel. Die Wirklichkeit zerfällt in Fetzen von Information, Sensation und Werbung. Die museale Ausstellung im Inneren ist wie ein Drama inszeniert. Longos Medium ist die Kohle, er arbeitet in Schwarz und Weiß – ideal für seine Zustandsbeschreibung einer polarisierten Gegenwart. Allerdings muss man zweimal hinschauen, um die Bilder als Zeichnung zu erkennen. Als Vorlage wählt Longo Pressefotos, die er zeichnerisch bearbeitet, um die Quintessenz der Zeit zu kristallisieren. Über kleinere Studien (ab 65 000 Dollar) werden die Motive immer schärfer konturiert, ehe Assistenten sie aufs Großformat übertragen. Hinter Glas wirken sie wie Fotografien.

Tatsächlich gefrieren die Kohlebilder Bewusstseinszustände der Gesellschaft. Da hängt an der Stirnseite des Ausstellungsraums schön und gewaltig die Studie eines schwarzen Faltenwurfs. Die schimmernde Plane verbirgt das Reiterstandbild des Südstaatengenerals Robert E. Lee. In den Vereinigten Staaten hat die Aufarbeitung der Vergangenheit gerade erst begonnen. Lange säumten Denkmäler der vermeintlichen Helden aus dem Bürgerkrieg die Straßen im Süden. Nun werden sie in Christo-Manier eingepackt und damit noch sichtbarer. Bei Longo geht von dem Monument eine dunkle Energie aus.

Glaube, Ideologie, Religion

Wie beim Film arbeitet er mit einem Team von Assistenten, macht diese Technik aber transparent, benennt auch die Helfer. Auf seiner Website beschreibt der Künstler sein Erweckungserlebnis durch ein Foto von John Filo, das später den Pulitzer-Preis bekam. Das Bild entstand 1970 während der Unruhen an der Kent State University, Ohio. Vier Studenten kamen bei den Protesten gegen die amerikanische Invasion in Kambodscha ums Leben. Einer war ein ehemaliger Mitschüler von Robert Longo. Seither covered Longo Fotos, in denen sich Geschichte verdichtet. Bei Capitain Petzel empfängt ein schwarzer Gott des Krieges die Besucher. In dieser plakativsten Arbeit der Ausstellung stampft das Monster zerstörerisch durch ein rauchendes Raumschiff. In dem Inferno sind nur die Stahlhände scharf konturiert, Werkzeuge der Gier. Auf drei mal fünf Metern wird der Roboter in dem monumentalen Altarformat des Triptychons zum Götzen, der durch Terror herrscht (1,2 Mio. Dollar).

Glaube, Ideologie, Religion sind als Motive in dieser Schau mal mehr, mal weniger sichtbar. Schön wie eine Schneeflocke wirkt die geborstene Fensterscheibe mit dem Einschussloch in ihrem Zentrum, bis man erfährt, dass sie von dem islamistischen Anschlag auf das Pariser Bataclan stammt.

Was schon bei Einzelbildern sichtbar war, wird in dieser spannungsvollen Gesamtinstallation noch einmal deutlicher. Robert Longo folgt beharrlich der Spur der Kohle und wird dabei immer besser. Seine Technik gleicht der von Gerhard Richter. Doch während dieser Gedankenräume öffnet, indem er historische Fotos verschleiert, geht Longo den entgegengesetzten Weg. Er schält das Motiv überscharf heraus und brennt es auf diese Weise ins Gedächtnis ein.

Raum ist von einem Dröhnen erfüllt

Man muss schon über sehr viel Selbstbewusstsein verfügen, um einen Eisberg mit Kohle zu zeichnen, gefrorenes Wasser mit verbranntem Holz festzuhalten, weißes Eis mit schwarzem Stift. Während in den anderen Bildern die weißen Flächen entweder ausgespart oder ausradiert wurden, sind hier die scharfen Kanten und Spalten des Eisbergs hauchzart mit Kohle schraffiert.

„Everything Falls Apart“ der Titel der Ausstellung zitiert einen Song der Punkband Hüsker Dü und scheint für den geborstenen Eisberg besonders zutreffend. Der ganze Ausstellungsraum ist von einem Dröhnen erfüllt. Doch der Lärm stammt weder von der Punk Band noch von der Schmelze des ewigen Eises, sondern von Papier. Im Keller läuft ein Film von Robert Longo, da werden vor der Kamera in Zeitlupe Fotos zerrissen. Je kleiner der Ausschnitt gerät, desto deutlicher tritt das Motiv hervor. Geflüchtete in einem Boot sind da zu sehen, rauchende Ruinen, lächelnde Blondinen. Ein Riss teilt donnernd die Welt. Robert Longo verstärkt den Widerhall. Da wird sichtbar, worin die Kraft seiner Kunst besteht: Er überhöht die Tragödien der Gegenwart mit federleichtem Material. Papier und Kohle.

Capitain Petzel, Karl-Marx-Allee 45, bis 3. 11., Sa 11–18 Uhr

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