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Flintenjungs. Kinderkadetten in einer US-Militärakademie, 20. März 1968.

© Archiv Robert Lebeck

Robert Lebeck im Kunstmuseum Wolfsburg: Päpste, Promis und Proteste

Das Jahr 1968 im Blick des Fotoreporters:Das Kunstmuseum Wolfsburg zeigt 24 Bildreportagen, die Robert Lebeck in diesem Jahr für den „Stern“ fotografierte.

Im Dunst des Morgengrauens stürmen die Pilger über ein Feld. Am fahlen Horizont die Silhouetten der Bäume. Mit Ästen, zum Kruzifix gebunden, drängen zwei Männer später durch die Menschenmasse und knien neben den Wachmännern nieder. Papst Paulus VI. ist in Kolumbien. Und Robert Lebeck mittendrin.

Seit jeher lebt die Fotografie von einem Versprechen: Was sie zeigt, sei genau so einmal gewesen. Dieser Anspruch auf Evidenz mag im heutigen Zeitalter der Fake News gelitten haben, doch seine Wirkung ist noch immer die Grundlage eines jeden Fotojournalisten. Sie liefern das Material, aus dem wir uns ein Bild der Gegenwart, ein Bild der Vergangenheit basteln. In den Sechzigern nahm diese mediale Bilderflut ein bis dahin ungekanntes Ausmaß an.

Robert Lebeck, damals Fotoreporter des „Stern“, sagte einmal, dass 1968, das Jahr der Studentenproteste, ohne ihn stattfand. Eine Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg möchte nun das Gegenteil beweisen. Sie zeigt acht der 24 Bildreportagen, die Lebeck in diesem Jahr für den „Stern“ fotografierte. Der Großteil der 110 Aufnahmen – ausgewählt aus 8900 Fotos – ist bisher unveröffentlicht. Es ist das Panorama eines Reporter-Jahrs: Deutschland, Europa, Amerika. Rudi Dutschke hält während des Prager Frühlings eine Rede, Robert F. Kennedys wird beerdigt, der Papst besucht erstmals Lateinamerika. Während der Nordirlandkonflikt in Belfast schwelt, starten Künstler in Kassel Gegenaktionen zur Documenta; in Wolfsburg feiert man das 30. Stadtjubiläum. Dazu Reportagen über geschiedene Frauen und eine Mörderin, die ihre Autobiografie schrieb.

Wird der 68er-Mythos weiter zementiert?

Mit der Auswahl und Einbettung der Bilder wollen die Kuratoren Ralf Beil und Alexander Kraus zeigen, wie der gesellschaftliche Wandel in den Fotos sichtbar wird. Nur stellt sich beim Blick in die Vergangenheit die Frage, ob dieser Wandel wirklich in den Fotos präsent ist oder nicht später hineinprojiziert. Schaut man mit dem Wissen der Nachgeborenen auf diese Bilder, besteht die Gefahr, dass sie nur zum Spiegel der eigenen Annahmen werden und den Mythos 1968 weiter zementieren.

Was diese Bilder jedoch zweifelsohne dokumentieren, ist eine globale Formierung von Öffentlichkeit: Gesellschaftliche Ereignisse treiben Menschen auf die Straßen, wenngleich aus verschiedensten Motiven. Zeigen die Fotos aus der Bundesrepublik, wie junge Menschen gegen die Amerikanisierung der Documenta oder eine Soldatenvereidigung in Wolfsburg protestieren, belegen die Bilder aus Amerika die einigenden Kräfte des Personenkults. Sei es in den USA aus patriotischer Trauer um den Bruder John F. Kennedys oder in Kolumbien aus religiöser Hoffnung auf päpstliche Segnung.

Drehpause. Diana Rigg und Curd Jürgens am Set von "Mörder GmbH", Venedig, 28. April 1968.
Drehpause. Diana Rigg und Curd Jürgens am Set von "Mörder GmbH", Venedig, 28. April 1968.

© Archiv Robert Lebeck

Löst man sich von den großen Erzähllinien, öffnet sich der Blick für die wunderbaren Nebensächlichkeiten und Randphänomene, die Lebecks Aufnahmen einfangen. Etwa das Bild eines verloren dreinblickenden Documenta-Besuchers, der mühelos den dritten Platz in einem Bob-Dylan-Doppelgänger-Wettbewerb gewonnen hätte. Oder diese Ansicht einer stereotypen Bungalow-Siedlung in Wolfsburg. Wie beiläufig durch das Objektiv eines Detektivs erhascht, sieht man vom Dach eines Nachbarhauses, wie eine Frau ein paar Sträucher pflegt, die ihr Garten sein sollen. Es wirkt wie ein Freigang im Gefängnishof.

Die Zwänge kultureller Anpassung

Eindrücklich sind jene Bilder, bei denen man plötzlich aus der voyeuristischen Ruhe des Betrachters gerissen wird, weil ein Gesicht in den Menschentrauben den Blick erwidert. Und dann ist da noch dieser junge schwarze Mann mit Lennon-Sonnenbrille, der vor der New Yorker St. Patrick’s Cathedral auf Einlass zu Kennedys Sarg wartet. Er trägt die Nationalflagge in Abstraktion: ein gepunktetes Hemd und einen gestreiften Schal; dazu Weste und Cowboy-Hut. Sein Haar ist geglättet. Mit diesen Insignien des weißen Amerikas erzählt das Foto eindringlich von den Zwängen kultureller Anpassung. Am entgegengesetzten Ende der US-Gesellschaft ereignet sich das Geschehen einer anderen Aufnahme: Als die Sargträger auf dem Nationalfriedhof in Arlington vom Weg abkommen, schaut ein irritierter Edward Kennedy in Lebecks Kamera.

Die Ausstellung arrangiert die Reportagen nicht nach örtlicher Nähe, sondern nach der Chronologie der Entstehung. So kommt es einerseits zu verblüffenden Verfremdungseffekten, weil man beim Übergang der Räume Ozeane, ja, Sinnhorizonte überquert: auf New York folgt Wolfsburg, und das ist hart. Andererseits schärfen diese Brüche den Blick für das Verbindende und schaffen Spiegelungen nicht nur in Ästhetik und Komposition der Bilder, sondern auch in ihren Sujets. Zeitungen zum Beispiel. Man liest sie in Prag im Stehen, faltet sie in Kolumbien zur Schlafmaske und bastelt sich in New York aus ihren Seiten einen Sonnenhut.

Nebenbei ermöglicht die Ausstellung einen Einblick in das journalistische Arbeiten der Zeit. Durch die ausgestellten „Stern“-Ausgaben lässt sich nachvollziehen, wie die Bildredaktion Fotos auswählte und bearbeitete. In einem Bild des päpstlichen Geleits ist einem Wachmann durch die Fotomontage eine dritte Hand gewachsen. Es ist so eine Sache mit der Evidenz.

Kunstmuseum Wolfsburg, Hollerplatz 1, bis 22. Juli, Di-So 11-18 Uhr, Katalog erscheint im Steidl Verlag, 38€

Jonas Lages

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