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Mansplaining von der Rückbank. Jan (Anton Spieker) nervt Jule (Mala Emde).

© Alamode

Roadmovie „303“ im Kino: Die Kinder von Marx und Holunderlimo

Roadmovie und Redefilm: Hans Weingartners Film „303“ begleitet zwei junge Studierende, die im Camper durch Europa fahren und über Politik diskutieren.

Eine Zeile aus Rilkes Schmargendorfer Tagebuch ist Hans Weingartner wortreiches Roadmovie vorangestellt: „Dieses ist das erste Vorgefühl des Ewigen: Zeit haben zur Liebe.“ Zeit haben sie, die beiden Mittzwanziger Jule und Jan in „303“. Anstatt das Flugzeug einer Billig-Airline zu nehmen, steigen sie in ein dreißigjähriges Mercedes-Hymer-Wohnmobil (Modell 303), das vielleicht gerade mal 80 fährt, die selbst gemachte Holunderlimo im Rucksack. Zeit nimmt sich auch der in Berlin lebende Weingartner („Die fetten Jahre sind vorbei“), der seinen selbst finanzierten Film an den fernsehfreundlichen Kinostandards vorbeigedreht hat: 145 Minuten dauert die Fahrt der jugendlichen Protagonisten von Berlin über Belgien und Frankreich bis nach Spanien und Portugal.

An einer Tankstelle bietet die Biologiestudentin Jule (Mala Emde) dem Politikstudenten Jan (Anton Spieker) einen Platz in ihrem Oldtimer an. Das Drehbuch schickt sie mit schwierigen Aufgaben in Richtung Atlantik. Jule ist ungewollt schwanger und möchte die Nachricht ihrem in Portugal lebenden Freund persönlich überbringen, Jans Ziel ist Spanien. Dort lebt sein leiblicher Vater, den er noch nie getroffen hat. Die Probleme der beiden Figuren spielen im Film jedoch eine fast untergeordnete Rolle. Sie sind eher der dramaturgische Rahmen für ein Pingpong weltanschaulicher Argumente. Denn weit mehr als ein Roadmovie ist „303“ ein Redefilm nach dem Vorbild von Richard Linklaters Walk-and-Talk-Romanze „Before Sunrise“ von 1995, an der der Regisseur seinerzeit als Produktionsassistent mitarbeitete.

Hier gibt es noch die gute alte Kapitalismuskritik

Weingartner inszeniert die betont auf Jugendsprache getrimmten Dialoge, die wie das Echo einer verquasselten Nacht in einer studentischen WG-Küche klingen, im naturalistischen Nebenbei-Duktus des „Mumblecore“-Genres. Doch meist ist hinter dem artikulierten Spiel das Textgebäude dennoch durchzuhören. Die Gesprächsthemen der sich übers Reden annähernden und ineinander verliebenden Fahrgemeinschaft reichen von Selbstmord über Beziehung, Treue und Partnerwahl bis hin zum großen Fass der Gesellschaftstheorien. Was bringt die Menschheit weiter, Wettbewerb oder Kooperation? „Oha, da bist du glaub’ ich nicht mehr auf dem neuesten Stand“ kommentiert Jule einmal nachsichtig Jans Ausführungen zum Darwinismus.

Auch wenn noch so viel diskutiert wird: Mit dem sogenannten Diskursfilm hat „303“ natürlich rein gar nichts zu schaffen, selbst wenn sich auch mal ein Begriff wie „systemimmanent“ ins Gespräch schleicht. Jule und Jan sind keine Diskursschleudern, die mit radikalen Theorien jonglieren, sondern debattierfreudige junge nette Menschen, hinter deren engagierten Zeilen Weingartners linksliberale Pädagogik immer wieder durchscheint. Hier gibt es noch die gute alte Kapitalismuskritik, die von einem gesellschaftlichen Außen aus argumentiert. Rückzug, Entschleunigung, Kooperation: Dass diese Strategien schon längst Teil der ökonomischen Verwertungslogik sind, ist in diesem Modell freilich nicht vorgesehen.

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Vielleicht sollte man den als „Jugendfilm“ etikettierten Film – bei der diesjährigen Berlinale eröffnete er die Sektion „Generation“ – aber auch erst gar nicht mit allzu großen Ansprüchen strapazieren. Dialektik ist in „303“ vor allem eine Sache der „Chemie“ zwischen den beiden Protagonisten. So haben die konträren Positionen – für Jule ist der Mensch empathisch, für Jan egoistisch – hauptsächlich die Aufgabe, das Gespräch zu energetisieren. Im Sinne von: Auch intensives Gequatsche kann ein Liebesbotenstoff sein. Am Ende werden sämtliche Widersprüche unter den Vorzeichen einer konsensfähigen Dissenshaltung miteinander versöhnt.

Kaum Berührung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit

Weingartners Roadtrip, den der Regisseur als „Anti-Tinder-Film“ verstanden wissen will, steht auch formal für einen konventionellen Begriff von Alternativkultur. Redepausen werden mit Indiesongs gefüllt, die gefühligen Folkballaden stammen zum großen Teil von Michael Regner. Und dramaturgisch verzichtet der Film zwar auf die üblichen erzähltechnischen Steilkurven – große Dramen gibt es, sehr angenehm, nicht – ohne sich aber im Gegenzug auf eine offenere Erzählung einzulassen oder gar den Anspruch eines entschleunigten Erzählkinos wirklich einzulösen.

Tatsächlich wirkt die gleichmäßige Abfolge von Fahren, Pausen und Reden auf Dauer recht schematisch, an der Landschaft zeigt der Film auffällig wenig Interesse. Wenn also hier ein Kloster, dort ein pittoreskes Küstenstädtchen besucht wird, bleibt es beim flüchtigen Postkartenmotiv. Im Grunde kommen Jule und Jan auf ihren gut 3000 Kilometern mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit kaum in Berührung. Zum „Zeit haben zur Liebe“ mag so ein Wohnmobil ganz schön sein. Das Freiheitsversprechen dahinter aber ist astreines Biedermeier.

In 15 Berliner Kinos

Esther Buss

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