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Die Weihnachtskarte

© Thilo Rückeis

„Rituale“, Teil 4: Mann beißt Hund

Rituale gehören zum Leben. In dieser Serie erzählen wir von Lust und Frust der Wiederholung. Diesmal mit den Weihnachtskarten der Schwiegermutter.

Jedes Mal wenn wir am Friedhof vorbeifuhren, und sie wohnte nicht weit davon entfernt, sagte meine Schwiegermutter: „People are dying to get in there.“ Sie war Amerikanerin und der rituelle Spruch lässt sich kaum in eine andere Sprache übersetzen. Ungefähr nur: Die Leute bringen sich um, um da hineinzukommen ...

Strenggenommen war das ein Dad- Joke, ein Witz von der Art, wie ihn alte Männer zwanghaft machen. Machen müssen. Ein Kollege – leider nicht mehr unter uns – gab immer zum Besten, wenn er mit der Familie an der Autobahnausfahrt Lehnin angelangt war: „Kein Wunder dass das nicht geklappt hat mit der DDR, die konnten nicht mal Lenin richtig schreiben.“ Und seine Frau meinte: „Noch einmal, und ich lasse mich scheiden.“ Witze sind Rituale von Natur aus.

Nicht dass sie besonders das Morbide geschätzt hätte, aber meine Schwiegermutter genoss es, wenn ich ihr nach dem Frühstück die täglichen Nachrufe aus der „Atlantic City Press“ vorlas. Da haben wir uns amüsiert, wie Familien ihre Verstorbenen würdigen: Eine Grandma war berühmt für ihre spaghetti with meatballs, ein älterer Herr erzählte den ganzen Tag Geschichten, die keiner mehr hören konnte, eine andere Verstorbene liebte Kreuzworträtsel und Kuchenbacken.

Wieder eine andere Dame wurde verabschiedet mit einem Satz: „Sie hatte Rubbellose gern.“ Die Kürze und die Würze des Lebens.

Der Abdruck dieser Obituaries kostet Geld, wie bei uns die Todesanzeigen; eine der wenigen sicheren Einnahmequellen für Lokalzeitungen, die um ihre Existenz kämpfen. Und man kann sich natürlich fragen, wo nun der Friedhof all der Blätter liegt und woran sie eingehen.

Es wurde geweint, gelacht, getrunken

An meiner Schwiegermutter lag es nicht. Sie hatte mehrere Titel abonniert und schnitt leidenschaftlich gern skurrile, bunte Sachen aus der Zeitung aus. Wie oft hatten wir einen Umschlag mit clippings in der Post, wovon eines herausstach: Irgendwo in Ohio (oder Illinois) wurde ein Mann von der Polizei festgenommen, weil er einen Hund anbellte und bedrohte, der allein in einem Auto saß. Mann beißt Hund, so geht richtiger Journalismus.

Vor ein paar Monaten haben wir sie zu Grabe getragen. Sie erreichte ein, wie man etwas zu leicht sagt, gesegnetes Alter. Gesegnet war jedenfalls ihr Humor – und jeder Mensch, der ihn erleben durfte. Über die Jahre hatte sie eine spezielle Form von Recycling entwickelt. Sie recycelte Weihnachtskarten, indem sie den Text durchstrich und etwas Neues hinschrieb.

Als die Tochter ihrer besten Freundin ihr erstes Kind bekam, schickte ihr meine Schwiegermutter eine umgewidmete Weihnachtskarte mit einer rotzfrechen Bemerkung. Beim zweiten Kind gab es einen abgewandelten Ostergruß.

Die Adressatin war irritiert, und nicht bloß, weil sie aus einer jüdischen Familie stammt. Auf der recht unterhaltsamen Trauerfeier für meine Schwiegermutter wurden einige dieser Recycling-Karten verlesen, uralte Exemplare darunter, ein echter Familienschatz.

Sie war katholisch und sehr arm aufgewachsen, hielt später gar nichts von Kirche, Papst usw. An ihrem Sterbebett durfte kein Priester sein. Enkelkinder spielten Jazz und sangen ihre Lieblingslieder. Es wurde geweint, gelacht, getrunken. Bloß keine letzten Riten.

Bisher erschienen: Papa spielt den Weihnachtsmann (22 .12.), Die Freuden des Schenkens (23. 12.), Spaziergang am Heiligabend (24. 12.)

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