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Die Uhr tickt. Und am 31. Dezember hört man sie so laut wie sonst nie im Jahr.

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„Rituale“-Serie, Teil 8: Silvester erinnert uns an das Drama der verstreichenden Zeit

Wir zählen den Countdown herunter und geraten in Verzweiflung. Doch es gibt eine bewährte Methode für mehr Gelassenheit zum Jahreswechsel.

Mit seinen Kanonenschlägen dachte mein Opa tatsächlich, einen Beitrag zur Vertreibung böser Geister zu leisten. Rückblickend muss man sagen, dass er damit gescheitert ist. Warum sollte man die Schrecken von Krieg und Gefangenschaft auch ausgerechnet am letzten Tag des Jahres mit Böllern im Garten bannen können. Überhaupt erwarten wir zu viel von Silvester – oder schlicht das Falsche. Dass wir es dennoch tun, liegt in der Dramaturgie der verstreichenden Zeit, die niemals so zu spüren ist wie am 31. Dezember. Ein Stundenglas steht neben uns, bis Mitternacht.

Bis dahin passieren die seltsamsten Dinge. Wir versenden Nachrichten, die wir später besser nicht mehr nachlesen. Verzweiflung meldet sich an, elementarer Streit mit schmutzigen Waffen droht. Soll man jetzt einen Gang hochschalten, in der Hoffnung auf eine leichtere Gangart oder den Abend vorzeitig aufgeben, den Countdown besser abbrechen und einfach schlafen gehen? Wer die letzten Stunden des Jahres heruntergezählt hat, erlebt einen Film, in dem er selbst nicht unbedingt die sympathische Hauptfigur spielt. Die Zeit läuft, und sie schmeichelt uns nicht.

In seinem Stummfilm „Die Frau im Mond“ hat Fritz Lang 1929 den ersten Countdown inszeniert. Es geht um eine von Verbrechen und Liebe geleitete Expedition zur erdabgewandten Seite des Mondes, wo es Sauerstoff und Goldhöhlen geben soll. Die Dramatik des Raketenstarts versinnbildlicht eine ablaufende Uhr, die den Abflug ins Ungewisse unwiderruflich vorantreibt. Lang ließ sich bei dem Entwurf seines Raketenschiffs „Friede“ von den führenden Experten beraten. Bald drauf bauten diese Männer Raketen für Hitler, nach dem Zweiten Weltkrieg dann in Amerika, wohin Fritz Lang ins Exil gegangen war.

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Die NASA ehrte den Regisseur später als „Father of Rocket Science“ und Erfinder des Countdown. Der Griff nach den Sternen wurde nun als Zeichen der Überlegenheit auf Erden inszeniert. Die Zeit wurde heruntergezählt, um die ganze Machtentfaltung von Brennstufen und Boostern auf Fernsehgeräten spürbar zu machen. Gebannt wartete man auf den „Lift off“ und sah feurige Schlieren gen Himmel streben. Bis dort plötzlich ein gleißender Feuerball zu sehen war – und die Zeit stillstand.

Es gibt nur zwei Dinge, die du nicht ändern kannst, sagen die Buddhisten, und das sind Gestern und Morgen. Zählen wir also leichten Herzens dieses Jahr herunter, in der Hoffnung, auch wieder unbeschwerter im Jetzt leben zu können. Wer zudem sichergehen will, 2022 auch garantiert Glück zu haben, wendet die spanische Methode an: Bei jedem der zwölf Glockenschläge, die das neue Jahr einläuten, eine Weintraube essen. Dabei nicht aus dem Takt kommen und nicht verzählen. So beginnt das neue Jahr jedenfalls schon mal vollmundig und süß. Zehn, neun, acht, sieben ...

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