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Staatsmann mit Ausstrahlung. Richard von Weizsäcker im Jahr 1987 bei einem Empfang in Berlin.

© imago images/Sommer

Richard von Weizsäcker zum 100. Geburtstag: Zerrissenheit und Zuversicht

Kein Politiker in der Nachkriegszeit verkörpert so wie Weizsäcker die Kontinuität, aber auch die Brüche der deutschen Geschichte und ihrer Eliten.

In dieser Woche wäre er hundert Jahre alt geworden, aber dieses Datum führt uns auch vor Augen, dass es gerade erst fünf Jahre her ist, dass das Leben von Richard von Weizsäcker zu Ende ging.

Vielleicht ist das der Grund, warum uns der langjährige Bundespräsident fast noch als Zeitgenosse erscheint. Vielen wird seine Erscheinung noch in lebhafter Erinnerung sein: die markante Physiognomie mit der Silberlocke, die schlanke Gestalt, das sichere Auftreten und die Wirkung seiner Reden.

Aber gerade die Erinnerung an seinen Geburtstag führt uns auch vor Augen, was für ein langes Leben er hatte und was er für die Deutschen bedeutete. Es war wahrhaftig ein Jahrhundertleben, freilich nicht nur wegen dessen Dauer, sondern vor allem wegen der Aura, die von ihm ausging, und der historischen Bedeutung, die er für die Deutschen hatte.

An ihm beeindruckt die Fülle gelebter, erlebter Zeit

Zur Faszination, die von diesem Leben ausgeht, gehört auch – und das steht nicht zuletzt hinter Weizsäckers Wirkung –, dass es ganz unterschiedliche Zeiten und Lebenssphären umfasste. An ihm beeindruckt die Fülle gelebter, erlebter Zeit, die ihn zu dem gemacht hat, was er war. Mit ihm reicht die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts noch bis in unsere Gegenwart.

Letzte Ruhestätte. Weizsäckers Grab auf dem Waldfriedhof Dahlem.
Letzte Ruhestätte. Weizsäckers Grab auf dem Waldfriedhof Dahlem.

© Tsp

Denn geboren wurde er sozusagen noch am Rande des alten monarchischen Deutschland, was ganz konkret seinen Ausdruck darin fand, dass er das Licht der Welt in einer Mansarde des Stuttgarter Schlosses erblickte – ein Großvater, der Generaladjutant des württembergischen Königs gewesen war, hatte sie dem demobilisierten Diplomaten für die erwartete Geburt des vierten Kindes zur Verfügung gestellt.

In die Familie hinein ragte die Zwiespältigkeit deutscher Geschichte

Es macht das historische Format dieser Gestalt aus, dass man sagen kann: Kein Politiker in der Nachkriegszeit verkörpert so wie Weizsäcker die Kontinuität, aber auch die Brüche der deutschen Geschichte und ihrer Eliten.

Richard von Weizsäcker stammte aus dem schwäbischen Bildungsbürgertum, die Vorfahren waren Theologen, Juristen und Verwaltungsbeamte, einer von ihnen, der Großvater, wurde württembergischer Ministerpräsident; er vermachte der Familie den erblichen Adel.

Aber in diese bedeutende Familie hinein ragte eben auch die Zwiespältigkeit der deutschen Geschichte, zum Exempel geworden in der Gestalt des Vaters. Ernst von Weizsäcker war Marineoffizier, wurde Diplomat der Weimarer Republik, stieg in der NS-Zeit zum Staatssekretär des Auswärtigen Amtes auf und wurde nach Kriegsende als Kriegsverbrecher von den Alliierten vor dem Nürnberger Gerichtshof angeklagt.

Weizsäcker verteidigte seinen Vater am Nürnberger Gerichtshof

Als Hilfsverteidiger hat der junge Richard von Weizsäcker am Prozess teilgenommen. Er hat lebenslang mit der Rolle gerungen, die sein Vater gespielt hat: ein Mensch gewesen zu sein, der kein Nazi war, sogar den Kräften des Widerstands nahe stand und der zugleich des Teufels Diplomat war.

Als er Bundespräsident wurde, schrieb Marion Gräfin Dönhoff, die ihm freundschaftlich verbundene „Zeit“-Publizistin: „Wenn man einen idealen Bundespräsidenten synthetisch herstellen könnte, dann würde dabei kein anderer als Richard von Weizsäcker herauskommen.“ Und er wurde, kein Zweifel, ein vorzüglicher Bundespräsident. Keiner hat dieses schwierige Amt so gut verstanden und zu nutzen gewusst wie er.

Er erfüllte das schwierige Amt mit Bravour

Denn ein schwieriges Amt ist dieses höchste Amt im Staat, von dem ein kluger Mann einmal gesagt hat: es sei eine Spitze, auf die nichts hinführt. Tatsächlich verfügt der Bundespräsident kaum über reale Machtmittel.

Die Wiedervereinigung zum Beispiel, das wichtigste Ereignis in Weizsäckers Amtszeit, blieb mit Helmut Kohl verbunden – Weizsäcker konnte zwar auf sie Einfluss nehmen, aber dann doch nur ihren Vollzug verkünden. Doch an Weizsäcker konnte man lernen, wie viel von dieser Spitze ausgehen kann: Zuspruch, Ermutigung, kluge Kritik, wichtige Anstöße.

Er hat die Schwäche des Amtes in einem Maße in Einfluss auf das politische Klima verwandelt, das realer Macht schon fast gleichkam. Auf der Höhe seiner Präsidentschaft machte Richard von Weizsäcker das Amt zu einer politisch-moralischen Größe im Gewaltengefüge dieser Republik, die zählte.

Unvergesslich bleiben seine Reden, zumal jene zum 8. Mai

Insbesondere mit der öffentlichen Rede – dem einzigen Instrument, über das der Bundespräsident wirklich verfügt – hat Weizsäcker in unvergesslicher Weise agiert. An keiner Rede ist das so zum Ereignis geworden wie an der zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes, die sogleich, millionenfach publiziert, zu „der Rede“ avancierte. Diese dreiviertel Stunde im Deutschen Bundestag, in der Weizsäcker den 8. Mai als einen Tag der Befreiung postulierte, wirkte selbst wie ein Akt der Befreiung von der Last der Geschichte und des Umgangs der Deutschen mit ihr. Das galt selbst – wie Richard Schröder berichtet hat – für die DDR.

Weizsäckers Rede befreite diesen Tag von der Indoktrination, mit der die offiziöse Feier als „Tag der Befreiung“ ihn drei Jahrzehnte lang belastet hatte. Richard von Weizsäcker machte der deutschen Öffentlichkeit vor, was es heißt, seine eigene Forderung ernst zu nehmen: der „Wahrheit so gut wir es können ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit“.

Von Weizsäcker hielt immer an der deutschen Einheit fest

Die Wiedervereinigung machte Weizsäcker zum ersten gesamtdeutschen Bundespräsidenten. Das hatte seine innere Berechtigung: Die Deutschlandpolitik, das Nachdenken darüber, was die Position Deutschlands in Europa und der Welt sein könnte, bildete immer ein Zentrum seiner Politik. Zumal in den frühen achtziger Jahren als Regierender Bürgermeister im mauergeteilten Berlin beschwor er unermüdlich die Notwendigkeit, die deutsche Frage im Bewusstsein zu halten und auf ihre Lösung hinzuarbeiten – besonders gern mit der paradoxen Formel: „Die deutsche Frage ist offen, solange das Brandenburger Tor zu ist“.

Mit Bedacht stellte er die Reden und Aufsätze, die er diesem Thema widmete, unter das programmatisch-trotzige Motto „Die Geschichte geht weiter“. Nachdem sie dann tatsächlich in einer damals nicht einmal erahnbaren Weise weitergegangen ist und aus den zwei Deutschlands wieder eines gemacht hat, gab es auch für den Lebensweg Weizsäckers eine letzte Wendung.

Sie hat ihn wieder nach Berlin gebracht, in die Stadt, die für ihn in Kinder- und Jugendjahren „zum Mittelpunkt des Denkens und Fühlens, zur eigentlichen Heimat geworden und bis zum heutigen Tag geblieben“ ist.

Gut zehn Jahre hat er so noch in seinem Haus im grünen Stadtteil Dahlem gelebt, ein Bürger unter Bürgern, der dennoch auch nach seinem Ausscheiden in erstaunlicher Weise blieb, was er war – ein Präsident, auch ohne Amt.

Hermann Rudolph ist der Autor von „Richard von Weizsäcker. Eine Biographie.“ Rowohlt Berlin, 288 Seiten.

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