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Der Autor Richard Pietraß.

© Jutta Schölzel

Richard Pietraß’ "Amerikanisches Grillen": Grillenfänger

Große poetische Intensität: Richard Pietraß hat ein Amerika-Tagebuch geschrieben, das keinem amerikanischen Mythos huldigen will.

„Allah ist the greatest“: Das sind die letzten Worte, die der Flugschreiber am 11. September 2001 aufgezeichnet hat. Kurz danach zerschellt die Maschine in der Nähe der Ortschaft Shanksville im US- Bundesstaat Pennsylvania. Das erschütternde Protokoll der letzten neunzig Minuten von Flug United 93, ein Dokument des existenziellen Ausnahmezustands, hat Richard Pietraß ans Ende seines Tagebuchs „Amerikanische Grillen“ gestellt. Ein harter Kontrast zu den Beobachtungen, die der Autor auf seinen Streifzügen durch amerikanische Lebenswelten und Landschaften festgehalten hat.

Pietraß, der exzellente Wortkünstler und Reimvirtuose, hatte im Herbst 2007 eine Poetikdozentur am Allegheny College im pennsylvanischen Meadville übernommen und geschichtsträchtige Orte rund um den Lake Erie aufgesucht, zuletzt auch die Absturzstelle des Jets in Shanksville. Seine Beobachtungen sind zunächst von einer gewissen Hektik und Atemlosigkeit im Absolvieren eines bildungstouristischen Parcours geprägt. Aber Pietraß weiß um die Gefahren einer bloßen Addition amerikanischer Skurrilitäten und verweigert sich konsequent der Perspektive eines sensationslustigen „Maulaffenpilgers“. Der Tagebuchschreiber streift nur kurz die Routinen, die ein Gastprofessor zu durchlaufen hat, und wartet geduldig auf den „Kairos“, den Moment der Erleuchtung abseits des Universitätsalltags. Aus ironischer Halbdistanz notiert er den „kulinarischen Aufgalopp“ bei Zusammenkünften im kleinen College-Kosmos oder den „kriegerischen Uniformsport“ rund um den American Football.

Poetische Naturbeobachtungen

Das poetische Sensorium des Dichters entzündet sich primär an der Beobachtung unscheinbarer Naturphänomene. Denn der „groundzerogehärtete, empiregepiercte, statuegestandene Menetekelpilger“ zeigt sich angerührt vom Flug einer Heuschrecke und dem betörenden Gesang der titelgebenden Grillen. Bei der Begegnung mit dem Niagara River erreicht das Tagebuch eine große poetische Intensität: „Dann stand ich an der Kante meiner Reisewelt und schirmte die Augen im Regenbogenlicht. Donnernd stürzte die Schürze hinab, ins felsgesäumte Prallgrab samt Auferstehung als lichte Gischt.“ Pietraß, der Poet und Grillenfänger, hat ein Amerika-Tagebuch geschrieben, in der auch die Begrenzungen des privilegierten Reisens festgehalten sind, Mußestunden, die auch mal „verträumt verquatscht, vergoogelt“ werden. Hier agiert ein (Selbst)Beobachter, der keinem amerikanischen Mythos mehr huldigen will.

Richard Pietraß: Amerikanische Grillen. Pennsylvanisches Tagebuch. Edition petit, SchumacherGebler, Dresden 2017. 74 Seiten, 16 €.

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