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Digitale Erleuchtung. Demonstranten protestierten 2018 mit hochgehaltenen Smartphones gegen Premier Sargsjan. Sie erzwangen seinen Rücktritt.

© Gevorg Ghazaryan/ dpa

Revolution per Livestream: Wie soziale Medien die Aufstände in Armenien ermöglichten

Die „Samtene Revolution“ trieb 2018 tausende junge Menschen auf die Straße. Smartphones und Livestreams waren entscheidend für den Protest.

Von Jonas Bickelmann

In Armenien ist das Internet heute genauso frei wie in Frankreich. Das bescheinigt die NGO „Freedom House“ dem Land in einem Ranking: Unter den postsowjetischen Staaten hebt das die Republik im Südkaukasus hervor. Und Armenien hat sich im Vergleich zur vorherigen Rangliste weiter verbessert.

Der armenische Premierminister Nikol Paschinjan, den 2018 friedliche Proteste ins Amt brachten, kommuniziert selbst bevorzugt über das Internet mit dem Volk. Schon während der Aufstände wandte Paschinjan sich regelmäßig in Facebook-Livevideos an die Protestierenden.

Damals wurden die Streams zum Werkzeug der Revolte, doch heute könnten sie die armenische Demokratie gefährden.

„Als Journalist hasse ich Livestreams“, sagt Artur Papjan, der die Proteste beobachtete. Im eigenen Livestream müssen Politiker keine kritischen Fragen beantworten wie in klassischen Medien.

„Livestreaming ist das, was früher das Fernsehen war: Wer die Bilder kontrolliert, hat die Macht", sagt Papjan. Bei traditionellen Medien befürchteten viele Menschen Manipulation, „weil sie nicht live sind.“ Die direkte Übertragung im Internet erweckt den Eindruck von Echtheit. Die Hoffnungen: Live kann nichts geschnitten oder montiert werden.

Aus Papjans Sicht spielte Facebook eine entscheidende Rolle in der Protestbewegung. „Alle, die ich kenne, waren damals bei Facebook“, erzählt er.

Ihre Strategie: Die Reaktion der Polizei live senden, damit Gewalt nicht verheimlicht werden konnte. Facebook ermöglicht es jedem, mit dem Smartphone zum Reporter zu werden. Während der Aufstände blockierten tausende vor allem junge Menschen Straßenkreuzungen in Eriwan, umzingelten Autos und forderten den Rücktritt des Oligarchen-Präsidenten Sersch Sargsjan.

Der hatte versprochen, nach zehn Jahren abzutreten, wurde dann aber vom Parlament zum Premier gewählt. Zuvor hatte er dafür gesorgt, dass viele Befugnisse vom Amt des Präsidenten auf das des Premierministers übergingen.

Die Armenier wollten die Korruption der alten Eliten nicht länger hinnehmen. Am 23. April 2018 hatten sie ihr Ziel erreicht: Sargsjan kündigte seinen Rücktritt an. Bei den anschließenden Neuwahlen wurde der ehemalige Journalist Nikol Paschinjan zum Nachfolger gewählt. Heute spricht man von der „Samtenen Revolution“. Ohne digitale Technik wäre dieser erfolgreiche Aufstand nicht denkbar gewesen.

Schon während des arabischen Frühlings nutzten Protestierende Livestreams, aber die Qualität war viel schlechter. Bis zur Revolte von Eriwan vergingen sieben Jahre, das mobile Internet ist heute schneller, die Bildauflösung besser.

In Armenien konnte die alte Regierung die Netze nicht einfach abschalten, wie es im Iran und China geschieht.

Es gibt mehrere unabhängige Netzanbieter: das russische Beeline, das armenisch-russische Vivacell und das armenische Ucom. Auch der Messaging-Dienst Telegram diente zur Organisation des Aufstands.

„Es gab einen Telegram-Superchat“, sagt Papjan. In solchen Gruppen können sehr schnell Informationen an alle Teilnehmer versendet werden.

Das ermöglichte eine dezentrale Planung der Straßenblockaden. „Es war ein DDoS der Polizei“, so Papjan. Als DDoS bezeichnen Hacker Angriffe, die einen Internetdienst mit so vielen Anfragen überlasten, dass er zusammenbricht. Das gleiche praktizierten die Demonstrierenden mit der Polizei. Wenn die Beamten anrückten, waren sie bald wieder weg und blockierten eine andere Kreuzung.

Neben den sozialen Netzwerken hatte auch eine gesellschaftliche Gruppe große Bedeutung für den Aufstand. „Es gibt hier 15 000 IT-Arbeitnehmer“, so Papjan.

„Sie arbeiten outgesourct und verdienen ziemlich gut.“ Viele Leute in Armenien hängen beruflich vom Staat ab. Die Tech-Firmen hingegen sitzen im Ausland und hatten keine enge Verbindung zu den alten politischen Eliten.

Die Oligarchen besitzen bis heute großen Einfluss, weil sie viele traditionelle Medien kontrollieren. „Das sind Leute mit der alten Mentalität: Wenn du Macht hast, musst du sie auch für deine Zwecke nutzen“, sagt Boris Nawasardjan, der Vorsitzende des Presseclubs von Eriwan. „Es ist unmöglich, herauszufinden, wer die Besitzer der Fernsehsender sind.“ Insbesondere die Privatsender, über die sich viele Menschen informieren, sind gegen die Regierung unter Paschinjan eingestellt.

Das staatliche Fernsehen versuche weiterhin, es der Regierung recht zu machen, sagt Nawasardjan. Von Premier Paschinjan kommen aber offenbar keine Anweisungen. „Die versuchen jetzt zu erraten, was die Regierung hören will“, so Nawasardjan. Auch Fake News sind ein Problem, und zwar auf allen Seiten. „Selbst die Fact-Checking-Projekte, die der Westen fördert, werden für Propaganda eingesetzt.“ Freiheit kann auch missbraucht werden.
[Die Recherche wurde vom Verein Deutsche Gesellschaft e.V. gefördert]

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