zum Hauptinhalt

Kultur: Retter in Not

Die Hilfsorganisation Cap Anamur wird 25 – und ist plötzlich hochumstritten. Ein Besuch bei einer vietnamesischen Familie, die das alles nicht versteht

Sie machen den Eindruck, als wäre ihnen das alles nicht ganz geheuer. Thi Da Nguyen hat Tee gekocht und lächelt, als verstehe sie kein Wort. Ihr Mann Tuan Kiet schaut auf den großen Fernseher, obwohl der gar nicht läuft. Neben ihm, auf der schwarzen Ledercouch, sitzt Amur, die einzige Tochter der Familie. Sie trägt weiße Socken wie der Vater und lächelt wie die Mutter. Bloß weniger verzagt. „Tut mir echt Leid“, sagt Amur, als die Rede auf die „Cap Anamur“ kommt. Aber dazu könne sie nichts sagen. Die Debatte um das Schiff, auf dem sie im November 1980 geboren wurde, sei an ihr vorbeigerauscht.

Auch die Eltern wollen nichts von den Vorwürfen wissen, die gegen die gleichnamige Hilfsorganisation erhoben werden. Von der Beschlagnahme des neuen Frachters, den Cap Anamur erst im Februar dieses Jahres gekauft hatte, und von dem Prozess, der der Mannschaft in Italien droht, haben sie angeblich noch nie etwas gehört. Amur hebt die Schultern und wirft ihre langen Haare in den Rücken. Gut, die Schlagzeilen habe sie schon gelesen. Aber ihre Geschichte hat mit der Geschichte der 37 schiffbrüchigen Afrikaner, die Cap Anamur im Juli über das Mittelmeer nach Italien gebracht hatte, wenig zu tun.

Die Nguyens leben in Berlin. Sie sind Boatpeople, Menschen die vor mehr als 20 Jahren versucht haben, aus Vietnam über das Südchinesische Meer zum nächsten Ufer zu fliehen. „Für uns sind die Leute von Cap Anamur Helden“, sagt der Vater Tuan Kiet. Er war 27, Student der Architektur, seine Frau war 20, als das Ärzteteam von Cap Anamur sie mitten in der Nacht aus einer sinkenden, völlig überfüllten Barke zog. Bei Thi Da hatten die Wehen eingesetzt, obwohl sie erst im siebten Monat schwanger war. Es war ihre Idee, die viel zu früh geborene Tochter nach dem Rettungsschiff zu benennen. Aber weil die Nguyens damals „Anamur“ noch nicht aussprechen konnten, entschieden sie sich für Amur, das war zwar auch kompliziert, aber wenigstens kürzer. „Ein toller Name“, findet die so Genannte heute. Es klinge wie Liebe und auch wie Hoffnung. Ihre schöne, schüchterne Mutter Thi Da nickt. So soll es klingen.

Thi Da schenkt knieend grünen Tee in weiße Tassen, dann hockt sie sich im Schneidersitz zurück auf den Sessel. Die Sonne scheint durch die Fenster, auf dem hellen Wohnzimmerteppich tanzen die Schatten. Im oberen Stockwerk der geräumigen Maisonette-Wohnung im besseren Teil von Berlin-Lichterfelde warten zwei Tanten aus Vietnam aufs Mittagessen. Sie sind für ein paar Wochen zu Besuch. Die Nguyens haben ihnen die Reise geschenkt. Sie stehen, wie man sagt, finanziell ganz gut da. Tuan Kiet arbeitet als „Managing Direktor“ in einer kleinen Firma, die mit Laserdruckern handelt, Amur studiert Jura. Die Familie ist ein Musterbeispiel für die erfolgreiche Integration der Boatpeople.

„Sie bauen fleißig am Wohlstand ihrer neuen Heimat“, heißt es gönnerhaft auf dem Kalender, den die Hilfsorganisation dieses Jahr zu ihrem 25-jährigen Jubiläum drucken ließ. Der Kalender, der mit sehr ästhetischen Schwarz-Weiß-Fotos die humanitären Einsätze der letzten Jahre und Jahrzehnte dokumentiert, wird seit Januar verkauft. Die große Geburtstagsparty soll Anfang September stattfinden, in Troisdorf bei Köln, wo alles begann, als Christel und Rupert Neudeck im Herbst 1979 mit Spendengeldern das erste Rettungsschiff charterten. 4000 Vietnamesen haben schon zugesagt, auch die Nguyens wollen zu dritt aus Berlin anreisen. Zusammen mit den anderen Geretteten werden sie gegrillte Schweineohren essen und alte Lieder singen. Doch ob es ein rauschendes Fest wird oder ein Trauerspiel, ist im Moment ungewiss.

Seit dem letzten missglückten Rettungsmanöver steckt Cap Anamur so tief in der Krise wie nie zuvor. Gegen Elias Bierdel, der vor zwei Jahren von Rupert Neudeck die Leitung übernahm, wird in Italien wegen „Beihilfe zur illegalen Einwanderung“ und „Vortäuschung falscher Tatsachen“ ermittelt – Bierdel und sein Kapitän Thomas Schmidt sollen den Eindruck erweckt haben, die Westafrikaner an Bord könnten aus dem Bürgerkriegsland Sudan stammen, was sich als falsch herausstellte. Und sollte das Gericht der Anklage Recht geben, könnte der für knapp zwei Millionen Euro hergerichtete Containerfrachter „Cap Anamur IV“ als „Schlepperboot“ verschrottet werden.

Der Anwalt Michael A. Hofmann, der im schwarzen Anzug aus München nach Köln gekommen ist, um seine Klienten zu beraten, spricht von einem „politischen Prozess“. Dass die Mannschaft der „Cap Anamur IV“ auf spektakuläre Weise nur das tat, was die italienische Küstenwache täglich tut – Menschen vor dem Ertrinken zu retten – scheint ihnen im Moment wenig zu helfen. „Wir wollten ein Zeichen setzen gegen die unmenschliche Flüchtlingssituation an der europäischen Außengrenze“, sagt Bierdel. Man könnte auch sagen, sie wollten einen Präzedenzfall schaffen und sind selbst einer geworden. Die italienische Regierung nutzt das Verfahren, um aller Welt zu zeigen, dass sie willens und in der Lage ist, ihr rigides Asylrecht umzusetzen. Der deutsche Innenminister unterstützt die italienische Regierung, um seinen grünen Koalitionspartner in Sicherheitsfragen in die Schranken zu weisen, die italienische Linke wiederum solidarisiert sich mit den Leuten von Cap Anamur, weil sie hofft, dadurch die eigene Rechtsregierung anzugreifen. Und die deutsche Öffentlichkeit reagiert gereizt wie noch nie.

Bierdel sagt, er könne es immer noch nicht fassen. Kritik, gut. Kritik an missglückten, schlecht vorbereiteten oder riskanten Manövern habe es immer gegeben. In der Geschichte von Cap Anamur wurde auch schon der eine oder andere Rechtsstreit ausgefochten, zuletzt 1993, lange vor Bierdels Zeit, als der „Focus“ behauptete, die Organisation betreibe in Kroatien ein Heim für Vergewaltigungsopfer, in dem Frauen interniert würden wie Sträflinge. Aber das war nichts gegen die Häme, die Bierdel entgegenschlägt.

Das Kiefernholzregal in seinem kleinen Büro ist voll mit Berichten über Cap Anamur, ansonsten stehen in seinem Büro nur ein Schreibtisch und zwei Stühle. „Ganz schön bescheiden bei uns, dafür dass wir angeblich nach der Weltherrschaft gegriffen haben“, findet er. Fünf Mitarbeiter koordinieren in dem kleinen Stadthaus in Köln-Ehrenfeld an uralten Computern die Einsätze von 500 Freiwilligen in der ganzen Welt. Die fest Angestellten bekommen ein richtiges Gehalt, bei Bierdel sind es 2500 Euro. Die Freiwilligen erhalten eine Entschädigung von 1100 Euro im Monat, brutto. Für Ärzte ist das nicht besonders attraktiv. Als sie die Mannschaft für das Schiff zusammengestellt haben, gab es Probleme. Die nautische Besatzung war, wie mittlerweile auf fast jedem Schiff, bunt zusammengewürfelt. Es gab Kommunikationsschwierigkeiten an Bord, der Maschinist war seiner Sache nicht ganz gewachsen. „Es ist wirklich viel schief gelaufen“, sagt Bierdel, der seit der Tour durch das Mittelmeer noch immer einen leichten Sonnenbrand hat. Er trägt Jeans und T-Shirt, „meine letzten Klamotten“. Der Rest wurde zusammen mit dem Schiff beschlagnahmt.

Eine große deutsche Tageszeitung hat ihm vorgeworfen, ein „Geschäft mit dem Leid“ anderer Menschen gemacht zu haben, eine noch größere deutsche Wochenzeitung nennt seine jüngste Aktion ein „Hilfs- und Rettungsspektakel“, was nichts anderes bedeutet als eine schäbige PR-Aktion in eigener Sache. Doch ist das wirklich so neu, dass Cap Anamur mit Medien gut kann? Dass eine private Hilfsorganisation den Menschen Bilder vom Elend liefert, welches diese Menschen mit ihren Spenden ein bisschen lindern können?

Auch Bierdels Vorgänger Rupert Neudeck hatte immer einen Fotografen dabei, oft auch ein Fernsehteam. Eine Minenräumaktion in Angola soll einmal mitten in der Nacht durchgeführt worden sein, weil die Kameraleute am nächsten Tag keine Zeit mehr hatten. Bei seinem Kosovo-Einsatz kooperierte Neudeck mit dem „ZDF“. Das Spendenaufkommen war größer als je zuvor. Damals haben Neudeck und Bierdel, der damals für die ARD aus Südosteuropa berichtete, sich kennen gelernt. Dass Bierdel 1999, bei Beginn der Luftangriffe der Nato, im Land blieb, beeindruckte Neudeck damals sehr. Ein Mann mit „Durchsetzungskraft“ und „dem nötigen Wagemut“, schreibt er in seinem Buch „Die Menschenretter von Cap Anamur“.

Als Bierdel nach einer Sinnkrise bei der „ARD“ kündigte und ganz zu Cap Anamur wechselte, wurde er als Erstes nach Afghanistan geschickt. „Ich hatte mir zu Hause gerade einen Bauernhof umgebaut. Rupert dachte wohl, ich sei gut in logistischen Fragen.“ Sie ergänzten sich bestens: der praktisch veranlagte Bierdel und der Missionar mit dem schlohweißen Franz-von-Assisi-Bart, dem man sein bedingungsloses, manchmal auch autoritäres Engagement für das Gute auch im Fernsehen noch abnahm. Die Chaotik des alten Mannes ging zwar vielen Menschen auf die Nerven. Seine Rastlosigkeit haben fast alle bewundert. „Der Kerl nervt ungeheuer, aber ich würde ihn immer verteidigen“, sagt Tom Koenigs, Ende der 90er Jahre UN-Verwalter in Pristina. Ohne Cap Anamur wäre das öffentliche Leben im Kosovo damals zusammengebrochen. Neudeck, der sich um Verwaltungsfragen wenig kümmerte, hatte in zehn Tagen die Müllabfuhr neu organisiert. „Rupert kam überall durch“, sagt ein ehemaliger Journalist, der ihn oft begleitet hat. „Der sah ja aus wie der liebe Gott persönlich.“

Sein Nachfolger Bierdel steht seit der letzten Aktion im Ruf, eher ein Draufgänger zu sein. „Ich bin der Mann mit dem Wohlstandsbauch und dem Megaphon“, sagt er bitter. Auf seinem Schreibtisch liegt ein Bild aus dem „Spiegel“ von vor zwei Wochen. Darauf hat er eine gewisse Ähnlichkeit mit Michael Moore – ein rotgesichtiger Kerl in Safari-Jacke, dem der Bauch über den Hosenbund quillt. In der einen Hand hält er ein Megaphon, die andere ist zum Himmel gereckt. Die Sonne scheint, der Mann lacht. Triumphierend, hieß es später. „Dabei war ich doch nur froh, dass wir endlich an Land gehen konnten.“ Am Ufer standen die Menschen, die sie in den Tagen, da Mannschaft und Flüchtlinge die Einreise verweigert wurde, mit Obst und Gemüse versorgt hatten. Bierdel dachte, sie hätten es geschafft.

„Ich hoffe, dass wir nach dem Muster, das wir einmal konfrontativ durchstehen mussten, weiter verfahren dürfen“, sagt er am 12. Juli im deutschen Radio. Kurz danach wurde er verhaftet. Bierdel, der Kapitän und sein erster Offizier, ein Russe, kamen nach wenigen Tagen wieder frei, die Flüchtlinge wurden nach Ghana abgeschoben, die anderen sitzten, bis auf einer, in Abschiebehaft. „Da wurde große Scheiße gebaut“, kommentierte Rupert Neudeck danach und dachte im „Spiegel“ schon laut über Bierdels Ablösung nach. Bierdel unterstellte seinem Vorgänger im Deutschlandfunk daraufhin „senilen Zynismus“. Seither reden sie nicht mehr miteinander, jedenfalls nicht öffentlich. Neudeck, dem sein Ausfall inzwischen Leid tut, hat sich Interviewverbot auferlegt. Er wolle die nächsten Wochen nichts mehr sagen, was gegen Cap Anamur verwandt werden könne. „Es ist ja doch mein Kind.“ Dann legt er auf wie ein gekränkter Vater. Das Kind ist erwachsen geworden, hat neue Interessen. Aber auch die Welt ist eine andere geworden.

Cap Anamur war ein Kind der neuen humanitären Wende der europäischen Linken und ein Enkelkind des Kalten Krieges. Die Ho-Chi-Minh-Rufe der Studenten waren verklungen, als vor der vietnamesischen Küste die Flüchtlingskatastrophe begann. In Paris gründete eine Gruppe um den französischen Philosophen André Glucksmann 1979 das „Comité un Bateau pour le Vietnam“, das Vorbild für Cap Anamur. Seine Anhänger wollten nun die Menschen retten, die vor dem kommunistischen Vietcong flüchteten, den die europäische Linke zehn Jahre vorher noch gefeiert hatte. Rupert Neudeck nannte das „radikale Humanität“. Die Unterstützung der Bevölkerung war immens. Auch die Bundesregierung hatte großes Verständnis für Flüchtlinge, die ihr Leben riskierten, um keinen Tag länger unter den Kommunisten zu leben. 10 000 Boatpeople erhielten in Deutschland ein unbefristetes Bleiberecht.

„Dabei wollten wir ursprünglich nach Singapur“, sagt Tuan Kiet, der Vietnamese aus Lichterfelde. Fünf Tage sollte die Überfahrt dauern, hatte der Reeder gesagt, dem Tuan Kiet und seine Frau Thi Da in Saigon umgerechnet 4000 Euro zahlen mussten, damit er sie im November 1980 auf eines dieser langen schmalen Boote ließ, die bis Mitte der 80er Jahre zu Tausenden vor der vietnamesischen Küste versanken. Heute würde man sagen, der Reeder war ein Schlepper. Er versprach den Menschen eine Passage ins gelobte Land und kassierte dafür ihr gesamtes Vermögen. Für die Ausreise der Nguyens hatten zwei Familien zusammengelegt. „Wir waren nicht reich“, sagt Tuan Kiet. Sie wurden auch nicht im engeren Sinne verfolgt. Fünf Jahre nach dem Vietnamkrieg herrschte im ganzen Land großer Mangel, es gab keine Medikamente, wenig zu essen, der Geheimdienst terrorisierte die Bevölkerung. „Wir hatten es satt.“ Nach den Asylregelungen der Europäischen Union würden sie wahrscheinlich als Wirtschaftsflüchtlinge gelten. Aber dieses Wort war damals noch nicht gängig.

Die große Migrationswelle, die zu steuern es in Europa keinerlei Konzepte gibt, zieht erst seit Ende des Kalten Krieges das Wohlstandsgefälle bergauf. Waren, Informationen, aber eben auch Menschen und ihre Sehnsüchte zirkulieren schneller als vor zehn Jahren. Alle Katastrophen, Hungersnöte, Kriege und Überschwemmungen spiegeln sich sofort in den Auffanglagern der großen Industriestaaten. Westafrikanische Migranten wandern Wochen durch die Sahara, bis sie die Mittelmeerküste Tunesiens oder Libyens erreichen. Sie wissen, dass die See dort besonders schmal ist. Letztes Jahr haben es knapp 15 000 Menschen aus Afrika auf diesem Weg nach Europa geschafft, wie viele unterwegs starben, weiß niemand genau. Cap Anamur geht von 3000 bis 5000 aus, und wenn diese Zahlen stimmen, hätte das Sterben im Mittelmeer mittlerweile eine ähnliche Dimension wie damals das Elend der vietnamesischen Boatpeople. Doch das Mittelmeer ist nicht das Südchinesische Meer. Es ist einer der Hintereingänge der gut bewachten Festung Europa. Spektakuläre humanitäre Einsätze geraten hier schneller zur politischen Provokation als anderswo.

Stefanie Flamm

Zur Startseite