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Eugene Atget

© promo

Retrospektive: Pariser Vorleben

Der Fotograf Eugène Atget porträtiert Paris mit geheimnisvoll wirkenden Bildern. Im Berliner Martin Gropius-Bau ist eine Retrospektive über sein unvergleichliches Werk zu sehen.

Manchmal kam er zu spät. Dann blickte Eugène Atget in ein aufgerissenes Haus und fotografierte dessen schäbige Reste. So wie im März 1913 auf der Rue de la Parcheminerie, wo das noch mittelalterliche Paris bloß noch aus einem Haufen Schutt und Steine bestand. Dann wieder gelangen ihm großartige Momentaufnahmen jener schmalen, lichtarmen Gassen aus einer anderen Zeit, die bald darauf unwiederbringbar verloren ging, weil die Stadt sich eine hygienische Modernisierung verordnet hatte.

Atget, der sensible Porträtist, hielt das Alte fest. Nüchtern, so meinte er, denn gedacht waren seine Fotografien als „Documents pour Artistes“, als Vorlagen für Künstler und Kunsthandwerker, die nach den Abbildern populäre Stadtansichten fertigen sollten. Vorbilder sind sie tatsächlich geworden, nur anders, und wer sich die große Retrospektive zum 150. Geburtstag des Fotografen im Martin-Gropius-Bau ansieht, der versteht den Grund. Atgets Bilder wirken wie perfekt komponierte Geschichten.

350 Motive, überwiegend aus der Bibliothèque Nationale de France, sind nach Berlin gereist, um das Werk so bekannt zu machen, wie Atget es verdient. Denn obwohl er längst zu den Klassikern seines Metiers zählt, kennt ihn die breite Öffentlichkeit viel zu wenig. Atgets Oeuvre umfasst neben den Pariser Straßen auch Gärten und repräsentative Bauten sowie die nahe, urbane Landschaft und jede Menge Detailaufnahmen dekorativer Elemente.Wobei es ihm egal zu sein schien, ob sich die Blätter einer Pflanze ornamental kringelten oder ein Treppengeländer im sonst schmucklosen Hausflur. Atget hielt auch Eingangstüren, Kutschen und gusseiserne Türklopfer fest und nahm damit Anfang des 20. Jahrhunderts vorweg, was Bernd und Hilla Becher viel später zur Basis ihrer fotografischen Arbeit gemacht haben – die systematische Erfassung einer Wirklichkeit, die sich im Übergang befindet. Damals war es die Moderne, bei Bechers dann die postindustrielle Zeit.

Auch andere Fotografen ließen sich beeinflussen. Walker Evans, Lee Friedlander oder Robert Doisneau etwa. Berenice Abbott hat den alten Mann in seinem Pariser Atelier nicht nur mehrmals besucht. Nach Atgets Tod 1927 erwarb sie knapp 1500 Negative und über 10 000 originale Abzüge und machte ihn anschließend in mühsamer und geduldiger Arbeit international bekannt. Sie selbst war über Man Ray auf den Fotografen gekommen: Der junge Avantgardekünstler, der wie Atget am Montparnasse wohnte, hatte ebenfalls Bilder gekauft und sie zu ästhetischen Vorläufern der surrealistischen Kunst erklärt.

Tatsächlich schaut Atget mit einem ungewöhnlich schrägen Blick in die Gassen und ihre teils skurrilen Schaufenster, auf die zerzausten Wurzeln eines Baums oder die Gestelle eines Bootsverleihers, deren Rädergewirr mehr einer fragilen, geheimnisvollen Maschine ähnelt. Vieles wirkt magisch aufgeladen – und entpuppt sich doch als Atgets visuelles Gespür für das Bizarre im Alltag.

Dabei bleiben die für heutige Verhältnisse kleinformatigen Fotografien sachliche Dokumente. Atget hat schlafende Clochards auf den Trottoirs ebenso realistisch abgelichtet wie flanierende Parkbesucher im Sonntagsanzug oder 1898 auf der Rue Lepic einen Hausierer, der mit lauter verzierten Lampenschirmen unterwegs ist. Hinter seinem Rücken aber scheint sich das Kopfsteinpflaster auf einmal zusammenzuziehen und der Weg wirkt unendlich gedehnt.

Eine Frage der Perspektive. Atget lässt gern vorn im Bild ein wenig Straße und vielleicht noch Pfützen aufblitzen. So verlängert sich der Blickwinkel, bis man sich nicht mehr auf einer kleinen Kreuzung wähnt, sondern auf einem großzügigen Platz. Dasselbe geschieht mit den schmalen, überdachten Einkaufspassagen, die auf den Fotos kein Ende nehmen.

Hier ein Schatten oder eine undeutliche Reflexion im Schaufenster, dort ein verwaschenes Gesicht als Resultat der langen Belichtungszeiten, schließlich die vielfach leichte Untersicht: Mit solchen minimalen Eingriffen verändert Atget seine Motive unmerklich und dennoch nachhaltig. Auf den ersten Blick bieten sie einen archäologischen Atlas, der das alte Paris in allen Facetten erfasst – die schütteren Häuser ebenso wie die überkommene Sprache der Architektur oder das sterbende Kleingewerbe.

Darüber hinaus lädt der Fotograf seine geliebte Stadt allerdings auch atmosphärisch auf. Je länger man hinschaut, desto mehr wird sichtbar. Kleine Blick und Gesten, dunkle Orte und dubiose Winkel. Vieles davon ist flüchtig und bleibt so zeichenhaft, dass man es nicht entschlüsseln kann. Eines aber macht Atget klar: Das moderne, saubere Paris wird eine Stadt ohne jene Geheimnisse sein, wie sie der alte, schmutzige Ort in sich trägt.

Eugène Atget. Martin-Gropius-Bau, bis 6. Januar 2007. Katalog 29, 90 Euro.

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