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Osman Kavala, Vorsitzender des Kulturinstituts Anadolu Kültür.

© Wiktor Dabkowski/Wiktor Dabkowski/dpa

Repression gegen Kulturstiftung: Türkei will keine Erinnerungskultur zulassen

Im Auftrag des feindlichen Auslandes gegen die Türkei? Was hinter der Repression gegen die Kulturstiftung von Osman Kavala steht.

Seit mehr als einem Jahr sitzt der türkische Kulturmäzen Osman Kavala in Untersuchungshaft. Eine Anklage gibt es bisher nicht und auch keine konkreten Vorwürfe. Dennoch beschimpft Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan persönlich den 60-jährigen öffentlich als Terroristenhelfer. Bei einer Razzia im Morgengrauen letzte Woche wurden ein Dutzend Intellektuelle und Akademiker festgenommen, die mit der Kulturstiftung von Kavala zusammenarbeiten – die Staatsanwaltschaft wirft ihnen Umsturzversuch vor. Der Staat geht so drakonisch gegen Kavala vor, weil er sich für eine türkische Erinnerungskultur einsetzt.

„Anadolu Kültür“ heißt die Stiftung von Osman Kavala. Das bedeutet „Kultur von Anatolien“, und der Name ist Programm. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht die kulturelle Vielfalt von Anatolien, die Kavala vor dem Vergessen und der Zerstörung bewahren will: die uralten einheimischen Kulturen, die von der Türkischen Republik jahrzehntelang vernachlässigt, geleugnet oder unterdrückt wurden - von den Armeniern über die Griechen und Assyrer bis zu den Kurden und Jesiden.

Mit Ausstellungen, Filmen, Konzerten, Austauschprogrammen, Werkstätten und zahllosen weiteren Kulturprojekten bemüht sich die Stiftung, das verschüttete Kulturerbe ans Tageslicht zu holen, bevor es zu spät ist. Eine Erinnerungskultur will Kavala damit schaffen. „Ich stehe für kulturelle Vielfalt“, sagte Osman Kavala in einem Interview mit unserer Zeitung vor zwei Jahren. Das doppelte Ziel der Stiftungsarbeit sei es, kulturelle Vielfalt zu erhalten und Gemeinsamkeiten zu schaffen. „Wir suchen Wege, wie Menschen verschiedener kultureller Hintergründe zusammenarbeiten können“, beschrieb Kavala seinen Ansatz.

Geschichtsverständnis, in dem es keine dunklen Seiten gibt

Das mag anderswo als lobenswert und unanstößig erscheinen, doch in der Türkei ist es politischer Sprengstoff, sagt die Bürgerrechtlerin Eren Keskin: „Osman Kavala und seine Vereine bemühen sich um eine Aufarbeitung der Vergangenheit, und das macht dem Staat Angst“, sagte Keskin unserer Zeitung in Istanbul. Pluralismus und kulturelle Vielfalt passten nicht zur nationalistischen Ideologie der Türkei. Keskin spricht von einer „verlogenen Staatsideologie“, die durch eine vorurteilsfreie Aufarbeitung der Geschichte in Frage gestellt würde.

Weil er mit dem amerikanischen Philanthropen George Soros und mit deutschen Stiftungen kooperiert, wird Kavala in der türkischen Öffentlichkeit unterstellt, im Auftrag eines feindlichen Auslandes die Einheit der Türkei untergraben zu wollen. Denn die türkische Staatsideologie propagiert das homogene Einheitsvolk und ein Geschichtsverständnis, in dem es keine dunklen Seiten gibt. „Der Staat will seiner Vergangenheit nicht ins Gesicht sehen, er will jede Erinnerung daran unterdrücken“, sagt die Anwältin Keskin. „Deshalb wird Osman Kavala von der Justiz selbst nach türkischen Maßstäben besonders drakonisch verfolgt.“

Keine Demokratie und innerer Frieden

Nicht nur Kavala hat darunter zu leiden. Auch die kurdischen Samstagsmütter, die Aufklärung über das Schicksal ihrer in den 90er Jahren von türkischen Polizisten, Soldaten und Geheimdienstleuten verschleppten Söhne fordern, werden neuerdings kriminalisiert; ihre Mahnwachen werden verboten und mit Polizeigewalt niedergeschlagen. Eren Keskin vertritt als Rechtsanwältin einige der Familien. Dass die Mahnwachen verboten werden, habe denselben Grund wie die Inhaftierung von Kavala, sagt sie. „Der türkische Staat entzieht sich einer Aufarbeitung seiner Vergangenheit – und wenn er zur Rechenschaft gezogen werden soll, erhöht er die Repression.“

Das ist nicht erst seit dieser Regierung so: Seit Gründung der Türkischen Republik hat sich noch jede Regierung geweigert, die Realität des Völkermordes an den Armeniern anzuerkennen, vom Schicksal anderer Völker Anatoliens ganz zu schweigen. So lange die Türkei der Vergangenheit nichts ins Auge sehe, werde sie nicht zu Demokratie und innerem Frieden finden, schrieb der türkische Intellektuelle Cengiz Aktar einmal. Er lebt heute im Exil.

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