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Kennste deine, kennste alle. Der verwitterte Verkehrsspiegel zeigt eine Dorfstraße in Thüringen als Zerrbild provinzieller Tristesse.

© Frank May/dpa

Replik auf die Dorfkinder-Kampagne: „Das Zentrum des Bösen ist der Dorfplatz“

Die Dorfkinder-Kampagne ruft notorische Verteidiger der Provinz auf den Plan. Doch fördert nur Urbanität die Selbstbestimmtheit des Individuums. Ein Kommentar.

Vor wenigen Tagen veröffentlichte die Hip-Hop-Band Antilopen Gang ihr neues Album „Abbruch Abbruch“. Darauf findet sich der Song „Zentrum des Bösen“, in dem es im Refrain heißt:

„Das Zentrum des Bösen ist der Dorfplatz / Wo am Morgen der Hahn dreimal kräht / Wo abends um zehn die Laternen ausgehen / Wo in jedem dritten Haus keiner lebt / Wo zweimal am Tag nur der Bus kommt / Wo freiwillig keiner hinzieht / Genau da ist das Zentrum des Bösen / wo vor Jahren die Zeit stehenblieb.“

Parallel dazu begann das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft in sozialen Medien eine Aktion, die unter dem Hashtag #Dorfkinder hitzige Debatten auslöste.

Eigentlich war sie als Imagekampagne geplant, mit der man das Selbstwertgefühl von Jugendlichen, die auf dem Dorf leben, stärken wollte. Doch seither wird heftig über die Vor- und Nachteile des Dorflebens diskutiert.

Von hämischen Bemerkungen, dass Dorfkinder die mit Bildern geführte Kampagne mangels schneller Internetverbindungen gar nicht erreichen könnte, bis hin zum Einwand, dass gerade im Dorf die rechte Szene besonders gut Fuß fassen könne.

Viele Dörfler fühlen sich persönlich angegriffen

Nicht unüblich für soziale Medien, ging es in der Auseinandersetzung kaum um sachliche Fragen, vielmehr um gefühlte Betroffenheit. Ganz besonders dünnhäutig waren diejenigen, die sich jegliche Kritik am Landleben verbitten wollten.

Wer sein Dorf glorifiziert, will offensichtlich nichts von Erfahrungsberichten über Rassismus, Antisemitismus, Sexismus oder Homophobie hören. Statt in den Spiegel zu blicken, will man ihn lieber verhängen.

Es gab auf Twitter und Facebook unzählige Beispiele für diese Abwehr, an denen vor allem auffiel, dass diejenigen, die das Dorf verteidigen, nicht in der Lage sind, eine allgemeine Beschreibung zu akzeptieren, sondern sich immer gleich persönlich angegriffen fühlen.

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Die in „Zentrum des Bösen“ vorgetragene Kritik am Dorf bezieht sich natürlich keineswegs auf eine räumliche Struktur – sondern sie kritisiert eine Mentalität. Es ist jene, die auch in den Social-Media- Debatten so deutlich zutage trat: die unzähligen repressiven Elemente des Landlebens zu ignorieren oder zu leugnen.

Das Dorf steht für eine antimoderne Lebenseinstellung

Versteht man das „Dorf“ nicht deskriptiv, sondern gesellschaftstheoretisch, dann geht es nicht um die Größe einer Ortschaft und natürlich auch nicht darum, dass jeder Mensch vom Dorf ein Depp wäre.

Es geht um einen kritischen Idealtypus, es geht um das, wofür „das Dorf“ steht. Es geht um eine bestimmte dörfliche Mentalität, eine antimoderne Lebenseinstellung, die kritisiert werden muss.

Hier wäre tatsächlich Selbstkritik angebracht, will man rassistischer oder sexistischer Diskriminierung nicht das Wort reden. Selbstkritik hört man jedoch meist nur von denjenigen, die sich bereits von der vermeintlichen provinziellen Idylle emanzipiert haben.

Anschaulich dargeboten in besagtem Song der Antilopen Gang: „Ich bin selber viele Jahre auf dem Dorf gewesen / doch war nie so glücklich wie, als wir beschlossen, fortzugehen / Sie haben uns zum Abschied noch vors Haus gerotzt / denn wer ins Scheißkaff nicht reinpasst, wird rausgemobbt.“

Was man nicht versteht und wovor man sich fürchtet, wird abgewehrt – und dafür steht symbolisch die Großstadt mit ihren Lastern, ihren Sünden, ihrer Freiheit, ihrem Rausch, ihrem Exzess.

Diejenigen, die das Dorf verteidigen, verteidigen es ja nicht, weil sie gute Argumente hätten. Es geht zumeist um eine Form der Identifizierung mit dem Provinzialismus, bei dem das moderne Glücksversprechen, das die Stadt symbolisiert, abgewehrt wird.

Die Stadt ermöglicht Entfaltung, Bildung, Reichtum

Die Stadt bietet durch ihre Anonymität und ihre vielfältigen Perspektiven, ihre Vitalität und Mobilität, ihren Pluralismus und ihre Mannigfaltigkeit die Chance für jeden Menschen, sich neue Räume zu eröffnen. Erst diese Flexibilität ist es, die es dem Menschen ermöglicht, sich von der „Idiotie des Landlebens“ zu emanzipieren, wie es der Soziologe Theodor W. Adorno nannte.

Die Freiheit der Urbanität ermöglicht nicht nur, der kleinräumigen Sozialkontrolle zu entkommen, sondern auch darauf, die Chance auf umfangreiche Bildung und ein höheres Maß an materiellem Reichtum zu gewinnen, der nicht nur den Austausch durch Handel, sondern auch den kulturellen Austausch ermöglicht.

Die Stadt ist das Versprechen der Moderne: Individuum und Subjekt sein zu können – das Versprechen auf Freiheit und Glück. Auch wenn sich das bis heute nicht eingelöst hat. Entscheidend ist aber, für dieses Versprechen zu kämpfen.

Urbanität steht für die Freiheit, das Dorf für die Unfreiheit. Das Raunen auf dem Dorfplatz gilt es zu verteufeln und zu bekämpfen. Es symbolisiert die Gegenaufklärung, den Kampf gegen die Freiheit des Individuums durch Überwachung und Kontrolle, wie ein Blick in die Ideengeschichte zeigt.

Das Dorf ist der Inbegriff der Reaktion

Das Dorf ist das Idealbild und Inbegriff der Reaktion, nicht nur der faschistischen und nationalsozialistischen – besonders deutlich vorbereitet bei Oswald Spengler in seinem Werk „Der Untergang des Abendlandes“.

Auch in der realsozialistischen Bewegung, die bis heute im gegenaufklärerischen und subjektfeindlichen Teil der Linken fortlebt, konkret in der antiimperialistischen Linken.

Ausgangspunkt für die revolutionären Prozesse in diesem seit den fünfziger Jahren entwickelten Weltbild waren sozialstrukturell die Bauern und infrastrukturell die Dörfer, maßgeblich geprägt durch sozialistische Bewegungen in China.

Lín Biao, der wichtigste Vordenker der chinesischen Kulturrevolution neben Mao, spitzte diese Ideologie terminologisch zum Weltbild des Kampfes des bäuerlichen Landes gegen die kapitalistische Stadt zu.

Die „ländlichen Gebiete der Welt“ (für Lín: Asien, Afrika und Lateinamerika) sollten die „Städte der Welt“ (für Lín: Nordamerika und Westeuropa) einkreisen und erobern. Wobei dieser Krieg als „Vernichtungskrieg“ geführt werden müsse.

Weltweite Urbanisierung war nie der Plan

Auf der anderen Seite ist die Idee einer weltweiten Urbanisierung nicht nur gescheitert, sondern sie war faktisch nie das Paradigma einer ernstzunehmend großen politischen Bewegung. Ein erster Schritt der Emanzipation wäre bereits unternommen, würde die Kritik am Dorf auch von denen formuliert, die in einem leben (müssen) – bis dahin scheint es aber noch ein weiter Weg.

[Samuel Salzborn ist Politikwissenschaftler und lehrt an der Uni Gießen. Anfang März erscheint sein neues Buch „Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern“ im Verlag Hentrich & Hentrich.]

Und solange dieser nicht beschritten ist, werden sich die Alltagserfahrungen von Rassismus, Sexismus und Homophobie weiter tradieren – nicht nur auf dem Dorf, aber besonders dort.

Weil der Ausbruch aus der „heilen Welt“, die immer alles war, nur niemals „heile“, die Voraussetzung dafür ist, dass der Mensch ohne Zwang und Kontrolle leben kann. Selbstwertgefühl entsteht nicht durch die Beschwörung von #Dorfkindern, es entsteht aus der Freiheit des Einzelnen.

Samuel Salzborn

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