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Reiner Stach, der Kafka-Biograf.

© Jürgen Bauer

Reiner Stachs Kafka-Biografie: Des Dichters Schatten

Niemand ist je so weit, so tief in den oft rätselhaften Kosmos Franz Kafkas vorgedrungen. Ein kühnes, schier wahnsinniges Unternehmen, das Reiner Stach vor vielen Jahren begann: eine Lebensbeschreibung auf 2027 Seiten. Drei Bände Biografie, deren letzter jetzt erscheint.

Soll das ein Witz sein? Da hat ein Mensch sein halbes eigenes Leben lang in tausend Recherchen und auf zweitausend Buchseiten über jenen sagenhaften Prager Schriftsteller nachgedacht – und beendet seine Riesenerzählung zum Leben Franz Kafkas mit dieser Szene: Es ist Mitte September 1911, der 28-jährige Dr. Kafka, im Hauptberuf gehobener Angestellter der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen, sitzt im Lesezimmer eines Sanatoriums am Schweizer Zürichsee, ein schon etwas kränkelnder junger Herr, doch ist seine später tödliche Lungentuberkulose längst nicht ausgebrochen. Er hat noch fast 13 Jahre Leben vor sich – und all das, was sein literarisches Werk für die Ewigkeit wird. Franz Kafka macht sich wohl ein paar Notizen, dabei teilt er das Lesezimmer mit einer schwerhörigen alten Dame, die in sich vertieft ihre Patiencen legt. Worauf der Kafka-Biograf Reiner Stach, der zuvor bereits eine Welt entfaltet hat, sein eigenes Werk mit einer scheinbar beiläufigen Frage beschließt. Die namenlose Dame nämlich spricht den jungen Gast aus Prag plötzlich an: „Was schreiben Sie eigentlich?“

Die kleine Szene könnte einer Thomas-Mann-Novelle entstammen. Und in der Frage steckt eine ungeheuer ironische Pointe. Ja, was schreibt der eigentlich, über dessen Erzählungen, Tagebücher, Briefe und gerade mal drei Fragment gebliebenen Romane („Der Verschollene“, „Der Process“ und „Das Schloss“) mehrere hunderttausend Studien existieren. Rund um den Globus hat wohl nur Shakespeare die lesende und schreibende Menschheit bis heute so unerschöpflich beschäftigt.

Herrschaft von Menschen und Maschinen

Wer über moderne Weltliteratur oder überhaupt über den Anbruch der Moderne und ein paar universelle Erfahrungen der Befremdung, des Schreckens und Staunens angesichts der eigenen Existenz etwas erfahren will, der hat zumindest mal den „Process“ oder ein paar Erzählungen wie „Die Verwandlung“, „Vor dem Gesetz“ oder „In der Strafkolonie“ gelesen. Niemand sonst hat die absolute Herrschaft von Menschen und Maschinen auch als unheimliche Macht der Schrift demonstriert: So wird dem Gefangenen in der „Strafkolonie“ (einem Vorschein aller KZs und Gulags) sein Urteil mit einer Egge auf den bloßen Leib eingeschrieben, bis zum letzten Wort und letzten Blutstropfen. Dann ist das Urteil vollstreckt. Alles erscheint so klar wie unergründlich, und richtig viel vom Erfinder dieser Visionen wissen nur sehr wenige Menschen. Doch das Zentralgehirn aller Kafka-Kenntnisse dürfen wir in einer stillen Berliner Seitenstraße nicht weit vom Schloss Charlottenburg vermuten. Im vierten Stock eines Altbaus arbeitet dort Reiner Stach und hat soeben sein dreibändiges Opus magnum abgeschlossen.

Das Finale der Trilogie heißt schlicht „Kafka. Die frühen Jahre“, es erscheint diese Woche im S. Fischer Verlag und gilt bereits als Buch des Jahres. Auch die englisch-amerikanische Übersetzung ist jetzt fertig, die spanische in Vorbereitung. Ein Ereignis. Und auf den ersten Blick ein Kuriosum, weil Reiner Stach nach 18 Jahren Leben mit Kafkas Leben nun endlich bei der Geburt des Knaben Franz K. am 3. Juli 1883 angelangt ist und nach diesem so späten Beginn auf 600 Seiten nurmehr die Kindheit und reifere Jugend seines Helden beschreibt.

Kafkanische Lebensbeschreibung

Aber das „Nur“ hat es in sich. Zuvor hatte Stach im Jahr 2002 „Kafka. Die Jahre der Entscheidung“ und dann 2008 „Kafka. Die Jahre der Erkenntnis“ vorgelegt. Niemand ist je so weit, so tief nach innen in den oft rätselhaften Kafka-Kosmos vorgedrungen, in einem so kühnen und mitunter schier wahnsinnigen Unternehmen. An jedem Band hat der heute 63-jährige, in Pforzheim aufgewachsene, in Frankfurt studierte Mathematiker, Philosoph und Literaturwissenschaftler genau sechs Jahre gearbeitet. Nicht gerechnet die Vorstudien und eine als Buch 1987 publizierte Dissertation mit dem Titel „Kafkas erotischer Mythos“.

Reiner Stachs kafkanische Lebensbeschreibung umfasst nun 2027 Seiten. Dabei griff Stach zu Beginn gleich in die Lebensmitte, schilderte die sechs für Kafkas Schreiben entscheidenden Jahre 1910 bis 1915. Der folgende Band endete mit Kafkas Tod im Jahr 1924 und einem Epilog zum Schicksal der überwiegend im Holocaust ausgelöschten Familie und seiner abenteuerlich geretteten, zu einem kleineren Teil allerdings von den Nazis vernichteten Schriften. Zum Abschluss also erst gelangt der Lebenserzähler zum Lebensanfang seines Helden. Wie das?

"Die dachten, ich sei nicht ganz richtig im Kopf!"

„Ich hatte keine andere Chance“, erzählt Stach dieser Tage in seinem Berliner Wohnzimmer, das in den Arbeitsraum übergeht. Alles luftig, geordnet, viele Bücher, kaum Papierberge, das eigene riesige Kafka-Archiv schlummert auf mehreren Festplatten. Im Regal steht auch die schwarze Pappkassette der siebenbändigen Kafka-Taschenbuchausgabe, die noch Max Brod, Kafkas Jugendfreund und frühester Fan aus Prager Zeiten, Ende der 1970er Jahre herausgegeben hatte. Darin befanden sich erstmals auch Kafkas Briefe und Tagebücher. Reiner Stach hatte die Ausgabe 1979 „bei irgendeinem Preisausschreiben des Fischer Verlags“ gewonnen. Zufall.

„Ich hatte in Frankfurt am Main gerade mein Staatsexamen in Mathematik und Germanistik gemacht, war 27 Jahre alt und in einer privaten Krise, weil ich nicht wusste, wie’s mit mir weitergeht. Den ,Process’ hatte ich mit 15 gelesen, aber bis dahin noch nie etwas Privates von Kafka. Seine Briefe und vor allem die Tagebücher haben mich umgehauen“, sagt Stach. „Ich sah, wie jemand mit einer ungeheuren sensuellen Auffassungsgabe Merkwürdigkeiten, Krisen, Schwächen, Sehnsüchte, Alpträume beschreiben konnte, wie es kein anderer Mensch je getan hat. Solche Vorstellungen hätten normale Menschen nur unter Drogen gehabt oder sie wären verrückt geworden. Doch Kafka, der sarkastisch sagte, ich bin nicht normal, der Weltkrieg ist normal, er hat das hellbewusst und mit gespenstischer Sicherheit in Literatur verwandelt.“

Promotion über "Kafkas erotischen Mythos"

Der junge Stach ließ daraufhin „die Mathematik sausen“ und schrieb seine Doktorarbeit über „Kafkas erotischen Mythos“, weil sich merkwürdigerweise noch niemand den Frauenbildern des hochkompliziert scheuen, zwischen Begehren und Rückzug zerriebenen Liebhabers gewidmet hatte. Kafka hat den Wiener Philosophen Otto Weininger gelesen, der in seinem berühmten Buch „Geschlecht und Charakter“ behauptete, dass die Frau ihre inneren Weihen erst durch den Mann erfahre, aber bei Kafka haben die Frauen die eigentliche Macht. „Sie verfügen über das Leben, der Mann bleibt die Zugabe, will dort eindringen, wo die Frau schon ist, er verkörpert die Reflexion, nicht die vitale Reproduktion. Deswegen können Frauen, meint Kafka, Männer retten, aber die Männer keine Frauen!“ Stach lacht: „Das ist Weiniger auf den Kopf gestellt, das war die These meiner Dissertation.“

S. Fischer druckt Stachs Studie, und er arbeitet als fester freier Lektor bis 1996 für das Frankfurter Verlagshaus, in dem 1997 auch die erste, von Max Brods posthumen Eingriffen gereinigte „Kritische Ausgabe“ erscheint, mit allen Varianten, Streichungen und nie publizierten Entwürfen. „Da konnte man Kafka beim Denken und Schreiben erstmals zuschauen und live sehen, wie er zum Beispiel beim ,Schloss’-Roman, den ich für den tollsten halte, noch alptraumartige Mensch-Tierfiguren erfunden hatte und sie dann verwarf, weil sie den Roman gesprengt hätten.“ Stach hatte bei der Ausgabe mitgeholfen. „Deswegen konnte ich bei meinem 1996 begonnenen ersten Band der Biografie schon das neue Material benutzen. Ein glückliches Privileg!“

Ein Vorbild war Jean-Paul Sartre

Sein größtes Glück aber ist, als einst völlig unbekannter Lektor mit gerade einer Diss als einzigem Buch überhaupt zum Kafka-Biograf zu werden. „Damals gab es erstmals den wahren Kafka zu lesen, aber zu meiner eigenen Verblüffung existierte international keine einzige umfassende Biografie des wahrscheinlich berühmtesten Autors des 20. Jahrhunderts. Als ich das bei Fischer meiner Verlegerin Monika Schoeller erzählte, hielt sie mich für verrückt. Alle hielten mich erst für verrückt. Außerdem hatte ich selber ja noch nie eine Biografie geschrieben.“ Stach schlug deshalb ein Experiment vor. „Ich fuhr mit einem Bücherkoffer und meinem Notebook nach Lanzarote, habe mich acht Wochen in einem Rentnerhotel verbarrikadiert und war dort der Einzige, der gearbeitet hat, was für allgemeine Beunruhigung sorgte, auch ohne dass man was von Kafka ahnte!“ Reiner Stachs Augen blitzen hinter den Brillengläsern. „Die dachten, ich sei nicht ganz richtig im Kopf!“

Kaum zurück von den Kanaren präsentierte Stach vor ungefähr 40 Mitarbeitern des Verlags auf einer internen Lesung zwei Probekapitel seiner erhofften, erträumten Kafka-Biografie. Die schlugen sofort ein. „Es war ein wunderbarer Tag, der alles entschied.“ Die begeisterte Verlegerin machte einen Vertrag, bot einen Vorschuss, obwohl der Autor warnte, er habe soeben gerade mal vier Wochen aus Kafkas 41-jährigem Leben erzählt. „Ich hatte schon damals mit mehreren Bänden und etwa 2000 Seiten gerechnet.“ Eines seiner wenigen Vorbilder war übrigens Jean-Paul Sartres grandios gescheiterte Flaubert-Biografie „Der Idiot der Familie“, die nach 3000 Seiten Flauberts Kindheit und Jugend ergründet hatte, ohne den Autor der „Madame Bovary“ mehr als nur am Horizont des noch Ungeschriebenen ahnen zu lassen. „Den Sartre habe ich gegenüber Frau Schoeller natürlich nicht erwähnt", meint Stach mit seiner selbst im Lachen mitschwingenden schwäbisch-süddeutschen Stimmfärbung.

Humor hat er auch bei Kafka entdeckt

Witz, das ist das angenehm Unakademische, besitzt Stach jede Menge. Und den Humor hat er auch bei Kafka, dem vermeintlichen Dunkel- und Schmerzensmann der Weltliteratur, immer wieder entdeckt. „Das ging mir schon bei meiner Lektüre als Schüler so. Ich hatte Kafka noch kaum verstanden, aber gemerkt: Das ist von ungeheurer Komik. Josef. K. wird zu Beginn des ,Processes’ grundlos verhaftet und später hingerichtet, aber nach der Verhaftung überlegt er kurz, ob er den bei ihm eingedrungenen dubiosen Beamten nicht seinen Radfahrerausweis als Gegenzauber vorzeigen sollte.“ Später werde das noch viel weiter getrieben. „Da gibt es eine richtige Slapstick-Szene, wo die Anwälte versuchen, nach oben ins Gericht vorzudringen und dann reihenweise die Treppe heruntergeworfen werden. Einmal bricht dabei sogar ein Teil des Bodens durch, und unten, wo die Angeklagten sitzen, sehen sie den Fuß eines Anwalts durch die Decke zappeln. Das hat Kafka im Kino gesehen, da bin ich mir ganz sicher.“

Sicher war sich Stach vor achtzehn Jahren jedenfalls, „dass ich den Leser auf meiner langen Reise zu Kafka gleich im Kern treffen und packen musste. Also begann ich mit Kafkas mittleren Jahren, in dem er berühmte Meisterwerke wie ,Die Verwandlung’ und den ,Process’ schrieb, weil diese Zeit auch am besten dokumentiert ist.“ Das war wichtig, weil Stach von Anfang an „szenisch“ schreiben wollte. Also erzählerisch. Tatsächlich liest sich sein „Kafka“ auch als Lebensroman. Allerdings ein Roman ohne Fiktion. „Ich habe nichts erfunden. Keine Gesten, keine Gefühle, kein Wetter, keine vermuteten Stimmungen.“

Souveräne Ironie

Trotzdem wirkt alles atmosphärisch dicht, voll Kolorit, und schon das Geburtskapitel des dritten Bandes (Motto: „Nichts los in Prag“) glänzt mit souveräner Ironie. Eben dies ist das Stach-Wunder – und Ergebnis unfassbarer Recherchen nicht nur in der Literaturwissenschaft, sondern in der Mentalitätsgeschichte, in Milieus, in Technik, Verwaltung, Medizin, Alltagskultur der Jahrhundertwende im niedergehenden Habsburgreich, zu dem Prag gehörte. In den Untergründen auch des Ersten Weltkriegs.

Stach hat für jeden Tag, den er schildert, beispielsweise die im Online-Archiv der Wiener Universität mit allen Jahrgängen ab Ende des 18. Jahrhunderts zugängliche deutschsprachige Presse, teilweise für Prag auch die tschechischen Zeitungen ausgewertet, die Akten der Personenstands- und Schulbehörden, der Arbeiter-Unfallversicherung oder zum Weltgeschehen auch das über hundert Jahre zurückreichende Archiv der „New York Times“.

Eine "Axt im Eis unserer Seele"

Kafkas schwer dokumentierbare Anfänge erst zum Ende zu schildern, war so eine kühne, doch bedachte Wahl. Stach hat sein Haus mit der Beletage erst auf vielen Säulen gebaut, jetzt gießt er dazwischen die Fundamente und geht ans Kellerwerk. Mit dem Problem, dass vor Kafkas eigenen Tagebüchern bereits Aufzeichnungen seines Freundes Max Brod existieren, der Kafkas Manuskripte gegen dessen Wunsch nicht verbrannt und dann 1939 in letzter Minute vor den in Prag einmarschierenden Nazis in einem Koffer nach Palästina gerettet hat. Der Zugang zu Brods Tagebüchern aber ist wegen eines durchaus kafkaesken Gerichtsstreits über Brods Nachlass seit Jahren in Tel Aviv blockiert. Stach hatte für seinen dritten Band lange auf dieses Material gewartet. Und es ist immer noch nicht freigegeben.

Also meinte der Berliner Verleger Klaus Wagenbach, der selber schon in den 50er Jahren Kafkas Anfänge erforscht und über dessen Jugendjahre seine Doktorarbeit verfasst hatte: „Stach, Sie können leider nur bei mir abschreiben!“ Stach aber hat doch noch viel Neues aufgespürt und ist mit Hilfe eines befreundeten Kafka-Forschers auf verschwiegenen Wegen auch in den Besitz der Kopien von drei der geheimnisvollen Brod-Tagebuchhefte gelangt. „Ich habe Wagenbach vorab zwei Kapitel des neuen Buchs zur Einsicht geschickt, und er hat gratuliert und gesagt, betrachten Sie mich nur noch als Ihre Quelle.“ Der daraus entspringende Erzählfluss strömt nun bei Stach.

Gegen Ende vom Ende waren freilich alle Verlagsvorschüsse und Stiftungsgelder aufgebraucht, da hat der Mäzen Jan Philipp Reemtsma das Projekt gerettet. Am kommenden Mittwoch stellt Stach nun seinen finalen Band im Berliner Ensemble erstmals vor, und Ulrich Matthes liest. Mit der Annäherung an einen Dichter, für den die Literatur eine „Axt im Eis unserer Seele“ war, wird darüber hinaus dann auch eine Vorstellung davon entstehen, was Thomas Mann einst „das innere Bild einer Epoche“ genannt hat.

Dieser Text erschien auf der Reportageseite.

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