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Kultur: Reifeprüfung mit Seifenoper

Das Nature Theater of Oklahoma zieht im HAU seinen 13-Stunden-Marathon durch.

„Um. So. Shall I start? Okay. Um …“ Ja, los geht's! Dieser hingestammelte Satz ist der Auftakt eines Epos anderer Art. Der Beginn einer irrlichternden, bis tief in die Nacht dauernden Odyssee durch das Meer des Banalen, das wir Alltag nennen. Pavol Liska und Kelly Copper, die Gründer der Gruppe Nature Theater of Oklahoma, haben mit der Performerin und Musikerin Kristin Worrall insgesamt 16 Stunden lang telefoniert. Und sich das Leben der Mittdreißigerin von der Geburt bis zur Gegenwart schildern lassen, in allen peinlichen, überflüssigen und erhellenden Details. Das manisch wortgetreue Transkript der Aufzeichnungen, nebst aller Versprecher und Pausenfüller, liefert das Material für ihr Mammutprojekt „Life and Times“, das am Ende zehn Episoden umfassen und vermutlich einen ganzen Tag dauern wird.

Noch ist es nicht so weit. Aber fünf Teile dieser großen Freischwätz-Oper mit dem Laber-Libretto liegen bereits vor, der sechste entsteht gerade in Berlin. Das Festival Foreign Affairs hat in Kooperation mit dem Hebbel am Ufer den New Yorker Künstlern und ihrer Company für zwei Wochen eine kreative Heimstatt eingerichtet. Und sie scheinen sich zu Hause zu fühlen. Spätabends schlurft Pavol Liska in einem Pyjama mit Teddybären-Muster durch die Bar des HAU 1 und lächelt unter seinem gezwirbelten Kaiser-Wilhelm-Bart vor sich hin. Die Trennung von Kunst und Leben ist beim Nature Theater of Oklahoma in jeder Hinsicht verpönt, zum Ereignis erhoben wird das Gewöhnliche.

„Life and Times – Episode 1", wie auch die Folgeteile am Wiener Burgtheater entstanden, war 2010 bereits zum Theatertreffen eingeladen. Es ist ein dreistündiges Singspiel, das amerikanische Musical-Schmissigkeit mit rhythmischer Sportgymnastik aus der sozialistischen Spartakiadenschmiede mischt, die der gebürtige Slowake Liska noch erlebt hat. Dazu erfährt man alles über Kristin Worralls turbulenten Werdegang bis zum sechsten Lebensjahr. Die Performance stieß, freundlich ausgedrückt, auf gemischte Reaktionen. Nicht wenige entflohen dieser fröhlich vorgetragenen Feier des Unspektakulären.

Aber vielleicht erschließt sich das Werk ja in voller Blüte erst im Zusammenhang? Das zu überprüfen, gab nun im HAU der erste „Life and Times“-Marathon Gelegenheit, bestehend aus Episode 1 bis 5, Dauer: dreizehn Stunden. Ein Kraftakt für Performer wie Zuschauer. Aber genau darauf legen es Copper und Liska an. Die Überforderung ist Programm. In ihrer Company müssen Toningenieure singen und Tänzer die Verwaltung erledigen. Und das Publikum soll bei dieser Strapaze nicht weniger gewinnen als eine neue Sicht auf die Welt. Für Liska ist das, was andere ein Durchschnittsleben nennen, nicht weniger als „pure Poesie“.

Diese eigenwillige Lyrik erschließt sich vor allem in Episode 2 tatsächlich für Momente. Im Stile eines 80er-Jahre-Musicals turnt sich die Performer-Crew im Adidas-Anzug und mit beckenbetontem Schwung durch Kristin Worralls Junior-High-School-Jahre. Das ist skurril, manchmal regelrecht mitreißend, von ziemlich schrägem Humor getragen.

Kristins beste Freundinnen Cheryl und Cindy (bekannt aus Teil 1) wachsen einem ans Herz wie Soap-Opera-Charaktere, Erinnerungen an Schwärmereien für Sting und sein Lieblingsessen (Steak mit Ofenkartoffel!), an erste Filme, Räusche und Küsse stiften mehr oder minder taugliche Identifikationsangebote. Es geht hier ja eben nicht nur um die Biografie einer jungen Frau aus Rhode Island, die sehr früh ihre Periode bekommen und mit ihren kleinen Brüsten gehadert hat. Sondern darum, wie Erinnerung konstruiert wird, wo das kreative Lückenfüllen zwecks Komplettierung der sogenannten Identität einsetzt. Das ist ein Leitmotiv im Kosmos des Nature Theater of Oklahoma.

Copper und Liska erkunden in ihren Arbeiten die Oral History unserer kollektiven (Ödnis)-Erfahrungen. Wobei die Lebens- und Arbeitspartner eine frühe Faszination für Tonbandaufzeichnungen aller Art teilen. Copper, Tochter eines Radio-DJs, hat sich schon als Kind mit Papas Equipment beim Pinkeln aufgenommen. Liska hingegen lernte in der Jugend über heimlich weitergereichte Kassetten die Schriften von Dissidenten wie Václav Havel oder Pavel Kohut kennen. Heute lassen sich die beiden am Telefon von Bekannten den Inhalt von „Romeo und Julia“ oder auch von „Rambo – First Blood“ wiedergeben und stricken aus den wirren Gedächtnisprotokollen absurde Performances. Oder ihre Spieler schleudern über iPods ins Ohr gespielte Fetzen aus Allerweltsdialogen auf die Bühne. Alles mit wechselhaftem Erkenntnisgewinn.

Die Grenzen des Ganzen sind offensichtlich. Das Banale hat die unangenehme Eigenschaft, in hohen Dosen zu langweilen. Episode 3 und 4 von „Life and Times“ geben davon ein Beispiel. Im gediegenen Kaminzimmer-Setting – das einer West-End-Inszenierung von Agatha Christies "Mausefalle" aus den 50ern nachempfunden ist – soll sich der Krimi des Heranwachsens entwickeln. Worralls Flegeljahre. Aber weder der erste Marihuanakonsum, noch das Anbändeln mit einem Jungen namens Brett Budlong, noch der Ballkleidkauf mit Mutti vermögen recht zu fesseln. Der mäandernde Inhalt braucht starke Form. Trotz suspensefördernder Orgelbegleitung und trotz des ausdrucksstarken Augenaufschlags von Stammperformer Robert M. Johanson als Chefinspektor der Hormonquerelen, bewegt sich dieser Teil auf dem Niveau einer schläfrigen Klamotte.

Episode 4 hat die Gestalt eines halbstündigen Animationsfilms. Eine zentrale Rolle spielt darin Kristin Worralls Katze Bentley, die an einer Milchallergie litt und nach dem Konsum von Durchfällen geschüttelt wurde. Armes Tier. Episode 5 ist ein Do-it-yourself-Part. Ausgerüstet mit Leselampe, darf man sich durch ein mittelalterlich aufgemachtes Kalligrafie-Büchlein blättern, das von Worralls ersten sexuellen Erfahrungen berichtet. Eine Art Pornobibel für die Kultgläubigen des Nature Theater of Oklahoma, die durchaus zahlreich erschienen sind und in dieser langen Nacht von einem Erweckungserlebnis ins nächste fallen. Über Glaubensfragen lässt sich bekanntlich schwer streiten. Aber die dramatische Kurve dieses Langzeitprojekts zeigt unübersehbar nach unten.

Am Ende sollen die Berliner einspringen und gemeinsam mit dem Nature Theater an Episode 6 werkeln. Aus Interviews mit Zuschauern wird eine Radioshow entstehen. Das ist der Vorteil dieses Unterfangens: Ein unspektakuläres Leben hat wirklich fast jeder zu bieten. Patrick Wildermann

„Life and Times“: Episode 6 am 10.7., 20 Uhr, Marathon mit Episode 1 bis 6 am Fr, 12.7., ab 14 Uhr, HAU 1

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