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Der japanische Regisseur Hirokazu Kore-eda.

© Gaga Corporation

Regisseur Hirokazu Kore-eda: „Jede Familiengeschichte beginnt mit einer Lücke“

Ein Gespräch mit dem japanischen Regisseur Hirokazu Kore-eda – über Mangas, Pflaumenwein und die Filme von Ozu.

Hirokazu Kore-Eda, Jahrgang 1962, zählt zu den wichtigsten Filmregisseuren Japans. Soeben ist die DVD zu seinem jüngsten Film „Unsere kleine Schwester“ erschienen.

Herr Kore-eda, Sie sind mit zwei Schwestern großgeworden: Rührte daher Ihr Interesse am Stoff von "Unsere kleine Schwester"?

Die Vorlage für den Film war der Manga "Umimachi Diary". Statt meine eigene Erfahrung einfließen zu lassen, habe ich Interviews mit Gruppen von je drei oder vier Schwestern geführt. Da gab es verblüffende Ähnlichkeiten: Oft bekommen sich die Älteste und die Zweitälteste in die Haare, gleichzeitig sind sich beide sehr ähnlich. Die Dritte schreckt davor zurück, sich auf eine Seite zu schlagen und bleibt neutral. Sie neigt dazu, ganz anders als ihre Schwestern zu sein. Egal ob es um Klamotten, Hobbys oder ihren Männergeschmack geht.

Fast alle Ihre Filme kreisen um das Thema Familie. Nun geht es um drei erwachsene Schwestern, die zusammen leben und ihre kleine Halbschwester bei sich aufnehmen. Auch eine Art Familie?

Absolut. Was mich fasziniert hat, ist der Gegensatz zwischen der idyllisch-traditionellen Atmosphäre von Kamakura ...

Eine alte Tempel-Stadt am Meer, in der der Manga spielt.

... und dieser modernen sozialen Situation, also zum Beispiel dem Vater, der die Mutter einst für eine andere Frau verlassen hat.

War es Vor- oder Nachteil, dass schon Bilder existierten, bevor Sie mit dem Drehen begannen?

Das war eine große Herausforderung! Der Autorin des Mangas, Akimi Yoshida, waren einige Bilder sehr wichtig, und ich habe mich bemüht, diese zu erhalten und sie mir zunutze zu machen. Es wäre aber ein Fehler, bei der Verfilmung einer Comic-Vorlage zu nah an den gezeichneten Szenen zu bleiben. Denn im Kino funktionieren die meist nicht - zum Beispiel die Vogelperspektive, die oft eingesetzt wird. Comiczeichner haben viel mehr Freiheit. Sie können Größe und Form der Rahmen verändern, und das erzeugt mit jeder umgeblätterten Seite einen Rhythmus, den man auf der Leinwand nicht nachbilden kann.

In Japan gibt es eine lange Comic-Tradition, die bis zu den Farbholzschnitten zurückreicht. Abgesehen von Animes: Hat das die Art des Filmemachens beeinflusst?

Ich sehe eher einen umgekehrten Zusammenhang. Für Filme gibt es hierzulande kein großes Budget, das ist eine Einschränkung für bestimmte Stoffe. Im Gegensatz dazu können Sie als Comiczeichner alle Grenzen sprengen und so fantasievoll sein, wie Sie wollen. Deshalb fließt in Japan viel kreative Energie in Comics. Vielleicht ändert sich das ja mit neuer Filmtechnik, die Spezialeffekte billiger macht.

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Lesen Sie selbst auch Comics?

Ja, sogar mehr als Romane. Aber ich bin kein Experte. Am meisten mag ich Comics, die die kleinen Details des Alltags zeigen oder Menschen auf subtile Weise porträtieren. So wie Jiro Taniguchi das tut, um einen Autor zu nennen, der in Europa bekannt ist.

Sie werden häufig als Erbe von Yasujiro Ozu bezeichnet, dessen "Tokyo Story" von 1953 vielen Cineasten als bester Film aller Zeiten gilt. Auch er drehte stille Filme über Familien.

Ich höre das ständig, besonders von Ausländern. Obwohl mir das Kompliment schmeichelt und ich Ozu verehre, geht es mir ein bisschen auf die Nerven. Wenn man mich fragt, nenne ich lieber Ken Loach als Vorbild. Ich finde die Art, wie er Menschen mit ihrer Verletzbarkeit und ihren Torheiten porträtiert, fantastisch. Nehmen Sie seine Filme über die Arbeiterklasse, etwa „Ladybird Ladybird“ oder „Raining Stones“.

Loach ist überzeugter Sozialist. Bei Ihnen kommt der Konflikt zwischen den Klassen höchstens zwischen den Zeilen vor.

Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der es diesen Konflikt in Japan kaum gab, jedenfalls war er nicht augenscheinlich. Wir hatten eine lange Phase, in der eine breite, stabile Mittelschicht existierte. Der einzige Filmemacher in Japan, der sich explizit mit der Arbeiterklasse auseinandergesetzt hat, war Nagisa Oshima. Ich vermute aber, das wird sich ändern. Seit etwa zehn Jahren kann man in Japan einen sozialen Wandel beobachten, die Unterschiede zwischen arm und reich wachsen. Gut möglich, dass das Klassen-Thema in Zukunft eine größere Rolle in Filmen spielen wird – auch in meinen.

Nochmal zu Ozu: "Tokyo Story" zeigt ein Japan des Aufbruchs, mit großen Familien. Heute stagniert die Wirtschaft, und die Geburtenrate ist extrem niedrig.

Was mir am meisten Sorge macht, ist, dass auf den Kindern viel mehr Erwartungen lasten, weil es meist nur noch eines in der Familie gibt. Früher hatten die Leute drei Kinder, da verteilte sich das stärker. Aber wer bin ich, darüber zu urteilen? Meine Frau und ich habe auch nur ein Kind, eine achtjährige Tochter.

"Blutsbande soll gar keine Rolle spielen? Das überzeugt mich nicht."

Der japanische Regisseur Hirokazu Kore-eda.
Der japanische Regisseur Hirokazu Kore-eda.

© Gaga Corporation

Man spürt den gesellschaftlichen Wandel in Ihren Filmen.

Was meinen Sie?

Es geht immer um Menschen, die eine Leerstelle in Ihrer Familie füllen müssen. In "Maboroshi" trauert eine Witwe um ihren Mann, der sich umgebracht hat, in "Nobodys knows" verschwindet eine Mutter und lässt ihre kleinen Kinder allein zurück, in "I wish" sehnen sich zwei Jungs danach, ihre getrennt lebenden Eltern wieder zusammen zu bringen.

Das ist kein bewusstes Konzept, es ergibt sich einfach so. Sicher hat es etwas mit der Gesellschaft zu tun: In den 70er Jahren verschwand die alte Großfamilie, und die Macht der Väter, die früher Patriarchen waren, verlor an Bedeutung. Die Leerstellen sind größer geworden. Es ist aber auch eine persönliche Erfahrung. In der Zeit, in der meine Eltern starben und meine Tochter auf die Welt kam, habe ich verstanden, dass jede Familiengeschichte mit einer Lücke beginnt. Mein Vater ging - und ich selbst wurde Vater; ich musste seine Rolle ausfüllen. Es ist wie ein Kreis, der sich schließt.

Klingt ein wenig religiös.

Oder handelt es sich um etwas Japanisches? Wahrscheinlich ist es diese zyklische Sicht, die ausländische Kritiker meiner Filme an Ozu erinnert.

Erkennen Sie manches von Ihrem Vater an sich wieder?

Oja! Je älter ich werde, desto mehr bin ich gezwungen, das einzugestehen. Dabei habe ich meinen Vater eine Zeit lang gehasst. Wenn er betrunken war, erzählte er Geschichten von seiner Kriegsgefangenschaft in Russland, da schimpfte er.

Sie lachen.

Neulich bin ich morgens aufgewacht und habe den Geruch des Kissens wahrgenommen, auf dem ich schlief. Mein Gott, dachte ich, das riecht ja nach deinem Vater! Es sind eher kleine Dinge. Ich habe früher nie verstanden, warum er die ganze Zeit Erdnüsse in sich hineinstopfte, aber neuerdings knabbere ich die auch immer, wenn ich spät abends DVDs anschaue. Wahrscheinlich habe ich das geerbt.

In "Like father like son" von 2013 spüren Sie genau dieser Frage nach: Wie wichtig ist Blutsbande?

In ostasiatischen Gesellschaften, glaube ich, noch ein wenig wichtiger als in europäischen.

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In dem Film werden zwei Kinder bei der Geburt vertauscht. Sechs Jahre später stehen die Eltern vor einer schwierigen Wahl: zwischen ihrem leiblichen Sohn und dem Jungen, den sie großgezogen haben. Wie hätten Sie entschieden?

Könnte ich Ihnen das beantworten, hätte ich den Film nie gedreht. Sicher, ich tendiere dazu, dass die Zeit, die man mit einem Kind verbracht hat, mehr zählt. Jedenfalls genügt die biologische Verwandtschaft nicht, um wirklich Vater zu sein - man muss seinem Sohn oder seiner Tochter schon nahe sein. Andererseits: Blut soll gar keine Rolle spielen? Das überzeugt mich nicht. Ist wohl eine konservative Ader in mir.

In "Unsere kleine Schwester" sind beide Eltern gestorben und ...

... die Rolle der Mutter geht auf eine der Schwestern über. Da haben Sie wieder eine Leerstelle, die gefüllt wird. Die Dinge können zerbrechen, aber trotzdem gibt es eine gewisse Stabilität in der menschlichen Natur.

Eine deutsche Rezensentin schrieb, die Schwestern würden - bei allen Verwerfungen - Halt in den japanischen Traditionen finden. Symbolisiert etwa durch den Pflaumenwein, der jedes Jahr von neuem hergestellt wird. Sehen Sie das auch so?

In Japan gab es sogar Kritiker, die den Film nostalgisch fanden. Vermutlich wegen der Landschaft und den alten Holzbauten von Kamakura. Dabei war ein verklärter Blick in die Vergangenheit wirklich nicht mein Ziel. Aber natürlich verleihen solche Bräuche einem Leben Stabilität. Man kann sich vorstellen, dass zumindest eine der Schwestern noch Pflaumenwein macht, wenn sie selbst Großmutter ist. In Japan gibt es ja sehr starke kulinarische Traditionen in jeder einzelnen Region und in jeder Familie.

Auch in Ihrer?

Meine Mutter hat gearbeitet, deshalb bin ich eher mit Tiefkühlware und Instant-Nudeln aufgewachsen. Gut in Erinnerung ist mir ihr frittierter Mais. Ich selbst kann überhaupt nicht kochen. In der Vergangenheit gaben Mütter ihre Rezepte an die Töchter und Schwiegertöchter weiter. Meine Mutter stammte aus der Gegend von Tokyo. Meine Frau kommt aus Okinawa - sie kocht ganz anders und denkt nicht daran, die Kochkunst meiner Mutter fortzuführen. Auf diese Art werde viele Traditionen langsam verschwinden.

Schade eigentlich.

Na ja, das ist der Gang der Dinge. Es gibt natürlich Männer, die ihre Frauen dazu zwingen wollen. Aber die sind nicht besonders beliebt.

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