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Die irische Musikerin Roísín Murphy.

© Adrian Samson

Rauschender Disco-Sound: Róisín Murphy singt gegen die bleierne Virus-Wirklichkeit an

Die Popsängerin hat die Kunst des Lockdown-Clips in eine eigene Dimension gebeamt. Ihr neues Album „Róisín Machine“ stimmt auf bessere Zeiten ein.

Sind die Nachbarn von Róisín Murphy nun zu beneiden? Oder eher zu bedauern? Ruhig scheint es im Umfeld der in London lebenden Musikerin jedenfalls selten zu werden. Auch zu Corona-Zeiten nicht.

Erst beendet sie daheim die Arbeit an ihrem Album „Róisín Machine“ (Skint/BMG), dann verwandelt sie ihre Wohnung regelmäßig in eine Bühne für Live-Performances, die sie in alle Netzwelt überträgt.

Tintenfischmütze und Farbstrudel

Mal in wuschelnden, mal in knallenganliegenden Outfits singt und tanzt sie durch das Zimmer, direkt neben Sesseln und Couch. Derart wild, dass sie auf ihren Rocksaum tritt und hinfällt, nur um vom Boden aus schnell zu versichern: „I'm alright!“

Dazu die Kopfbedeckungen: Von einer Tintenfischmütze bis zu einem schwarzen Lampion kommt alles Mögliche und Unmögliche zum Einsatz.

Um Murphy herum wirbeln hineinprojizierte Farbstrudel, Tänzer und alte Aufnahmen. Als sie den Hit „Sing It Back“ performt, den sie 1998 mit dem trip-hopigen Dance-Projekt Moloko landete, tanzt sie mit ihrem jüngeren Alter Ego aus dem dazugehörigen Video um die Wette. Kurzum: Róisín Murphy hat die Kunst der Lockdown-Clips in eine völlig eigene Dimension gebeamt.

Doch nicht nur auf YouTube singt sie gegen die bleierne Virus-Wirklichkeit an. Auch ihr Album „Róisín Machine“, das an diesem Freitag erscheint, ist eine rauschende Discoplatte, die danach schreit, dort gespielt zu werden, wo Hunderte Menschen sich dem kollektiven Tanzrausch hingeben.

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Dabei hebt die Platte behutsam an: mit einer Streicherpassage, so handgemacht wie „Róisín Machine“ im Laufe ihrer knapp 55 Minuten nicht wieder klingt. Vorbei sind die Zeiten, in denen gewundene Songstrukturen und eine behutsame Weirdness ihre Soloplatten durchzogen haben. Diesmal, auf ihrem fünften Album, ist alles geradliniger, klarer, einfacher. Das mag man bedauern, der Sound entwickelt dadurch jedoch eine Körperlichkeit, die mitreißt. Ein Track rauscht in den nächsten.

Anderthalb Minuten dauert es bis bei „Simulation“ ein sturer House-Beat hinzukommt, die Hi-Hat zischt und ein schön fetter Bass seine Loopings dreht. Darüber singt Murphy, ohne dass sich ein echter Refrain herausschält. Nur immer wieder dieses Mantra: „This is a simulation, this is for demonstration.“

Ihre Stimme taucht in den Strom der repetitiven Soundmuster ein, schwimmt darin mit. Die Fragmente hallen durcheinander, dazu ein permanentes Stöhnen im Hintergrund, sinnlich, rätselhaft und in einem Song namens „Simulation“ auch nicht frei von Ironie.

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Ganz an den Anfang des Stücks stellt Murphy ein Statement der Selbstermächtigung: „I feel my story is still untold. But I make my own happy ending.“ Darin steckt auch ein gewisses Maß an Trotz. In Interviews äußert die 47-Jährige immer wieder Verwunderung darüber, dass ihr Einfluss auf Pop-Künstlerinnen à la Lady Gaga und Dua Lipa, bei denen Musik, Mode und Performance ein Gesamtkunstwerk ergeben, nach wie vor unterschätzt werde.

Róisín Murphy, gesprochen „Roschien“, hat sich schon immer jenseits der Genre-Grenzen bewegt. Sie liebäugelt früh mit einem Studium der Bildenden Kunst, entscheidet sich dann aber für die Musik. Mittlerweile dreht sie für sich und andere Künstlerinnen und Künstler Musikvideos.

Mit 50 will sie Film endgültig ins Zentrum ihres Schaffens rücken, vielleicht einen über ihr Leben drehen und erzählen, wie sie als gebürtige Irin mit der Familie nach Manchester zog, als sie zwölf war. Wie die Eltern vier Jahre später wieder zurückgingen, sie jedoch blieb und sich ins Nachtleben warf.

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Natürlich darf auch ihre Begegnung mit dem Produzenten Mark Brydon nicht fehlen, mit dem Murphy 1993 Moloko gründete, nachdem sie ihn auf einer Party mit den Worten angesprochen hatte: „Do you like my tight sweater?“ Ein Satz, den sie auch zum Titel ihrer ersten gemeinsamen Platte machten.

Immer wieder hat Róisín Murphy die Kollaboration mit anderen Musikern gesucht. Derzeit arbeitet sie mit dem Hamburger DJ Koze an ihrem nächsten Album. Das aktuelle hat sie mit DJ Parrot aufgenommen, den sie seit Schulzeiten kennt. Der Song „Simulation“ war der Anfang ihrer künstlerischen Zusammenarbeit. Schon 2012 bringen sie den Track heraus, dann kommt lange nichts, auch weil die Single ohne großes Feedback in der Musikwelt verhallt.

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Drei Jahre später nehmen sich Murphy und Parrot wieder ein Stück vor: „Jealousy“, ein Disco-Song der wie ein Rummelplatz bei Nacht klingt und nun den Schlusspunkt von „Róisín Machine“ markiert. Anfang und Ende des Albums entstehen früh. Zur Initialzündung für das Futter dazwischen wird 2019 „Incapable“, ein Track mit viel Swagger, der es einem nicht leicht macht, ruhig sitzen zu bleiben. Murphy singt mal schneidend scharf und hoch, dann wieder nuschelnd und tief. Ihr Gesangsstil ist intuitiv und eigen. Unterricht hat sie nie genommen, wie sie sagt.

Housige Klavierakkorde und funky Bässe

Nach „Incapable“ ist die Platte wenige Monate später fertig – trotz des Lockdowns, in dem Murphy und Parrot „Róisín Machine“ vollenden. Der Frust über die Corona-Zwänge lässt sich am klarsten aus dem Stück „Shellfish Mademoiselle“ herauslesen. Der Titel ist eine Wortverdrehung: Eigentlich geht es um die Egoismen Murphys, dieser „selfish Mademoiselle“, wie es im Song heißt.

Sie fragt: „How dare you sentence me to a lifetime without dancing, when my body’s built for feeling and keeping good time?“ Dazu die sparsamen, typisch housigen Klavierakkorde, viel Geklatsche und der funky Bass, der den Sound der Platte prägt.

„Róisín Machine“ vibriert vor Lust auf Bewegung und dem Drang, zusammenzukommen trotz allgemeiner Vereinzelung. Geradezu minimalistisch bringt es das zentrale Stück „We Got Together“ auf den Punkt. Der Text erschöpft sich in einem ständig wiederholten „We got together“, mal variiert durch ein „We move together“ oder „We groove together“. Dabei strunzt und rummst es, dass es eine stumpfe Freude ist.

Es mag lapidar klingen in Zeiten, in denen die Angst vor Ansteckung die zwischenmenschlichen Beziehungen zerfrisst, doch Murphy schafft es, mit „Róisín Machine“ Trost zu spenden und Zuversicht, dass auch wieder bessere Zeiten kommen. Bis dahin muss das süße Vergessen auf dem heimischen Dancefloor reichen – zwischen Sesseln und Couch.

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