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Der 1994 in Räckelwitz in Sachsen geborene Schriftsteller Lukas Rietzschel

© Christine Fenzl

"Raumfahrer" von Lukas Rietzschel: Alles auf dem Kopf

Hier die Tristesse in Sachsen, eine gesichtslose Urbanität ohne Zukunft, dort die Gebrüder Baselitz: Lukas Rietzschels starker Roman „Raumfahrer“.

Ein abgetakeltes Krankenhaus im ländlichen Sachsen, kurz vor der Schließung; ohne die Sanitäter aus Rumänien ginge nichts mehr. So wenig ist hier los, dass von allen Seiten schon die Natur eindringt. Eines Nachts entdeckt eine Ärztin einen jungen Hirsch auf den Gängen; er ist zwischen zwei Schiebetüren mit Bewegungsmeldern geraten, eine für das Tier ausweglose Situation.

Sobald sich eine der Türen öffnet, rennt es los, prallt aber stets gegen geschlossenes Glas. Dann in die andere Richtung, wie die Ärztin hilflos mitansehen muss, immer wieder.

Mal sind es in präziser Lakonie erzählte Szenen wie diese, mal eindringliche Detailbeobachtungen, mit denen der 27-jährige Schriftsteller Lukas Rietzschel in seinem Roman „Raumfahrer“ (München 2021, dtv, 288 Seiten, 22 €.) Atmosphäre, Verhältnisse und Tristesse seiner sächsischen Heimat einfängt.

Wie die vergilbten Unterhemden, die noch auf den Wäschestangen vor den verfallenden letzten Plattenbauten einsam im Wind vor sich hinschaukeln. Vor allem aber liefert Rietzschel beklemmende Beschreibungen einer gesichts- und geschichtslosen Urbanität ohne Zukunft, von aufgegebenen Handyhüllenläden bis zum leerstehenden Einkaufszentrum, aus dem noch eine Paintballhalle werden könnte – gäbe es im Ort nur genügend junge Leute, „um anständige Teams bilden zu können“.

Rietzschel sorgte schon mit seinem Debütroman für Furore

Der Ort ist das heutige Kamenz im Landkreis Bautzen. Hier sorgen längst schmucke Einfamilienhäuser anstelle sozialistischer „Wohnblöcke“ für die soziale Normierung. In Vanille- oder Zitronengelb, mit geschotterten Gärten, Carports und Autos, auf die sich der Pollenstaub „wie nach einem Vulkanausbruch“ legt, Vorzeichen des nächsten Untergangs.

2018 sorgte Lukas Rietzschel mit seinem Debütroman „Mit der Faust in die Welt schlagen“ für Furore. Sein im Braunkohle-Revier der Oberlausitz spielender Coming-of-Age-Roman lieferte das literarische Anschauungsmaterial für jenes ostdeutsche „Identitätsvakuum“ (Rietzschel) der Nachwendezeit, das orientierungslose Heranwachsende auf rechtsradikale Irrwege führte.

Die Kritik beförderte den jungen Autor, der aus literarischen Gründen lieber in Görlitz als in Berlin wohnt, umgehend zum „Experten“ für ostdeutsche Lebenswelten und Befindlichkeiten. Entsprechend hoch sind nun die Erwartungen an seinen zweiten Roman.

„Raumfahrer“ erzählt von einer noch allzu gegenwärtigen Vergangenheit, schwelenden Verletzungen und zwei Familiengeschichten, die auf komplexe Weise miteinander verwoben sind, mit dem Maler Georg Baselitz und seinen Werken in einer Nebenrolle.

Da ist zunächst der im letzten Jahr der DDR geborene Jan, der als Pfleger im Krankenhaus arbeitet. In einsamen Nachtschichten sucht er bei der Ärztin Karolina Trost, lebt ansonsten mit seinem Vater in einem Reihenhaus, verfolgt von den Erinnerungen an den Alkoholtod seiner zuletzt getrennt lebenden Mutter.

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Und da ist der „Alte“, Thorsten Kern, der im Rollstuhl sitzt, zur Physiotherapie ins Krankenhaus kommt und Jan gegenüber rätselhafte Andeutungen macht. Eines Tages drückt er ihm einen Schuhkarton mit Fotos und Dokumenten in die Hand.

Jan hat an diesem Material zunächst wenig Interesse. Sein Widerwille scheint instinktiv, denn im Übrigen interessiert sich der Endzwanziger durchaus für das Gestern. Anders als sein Vater, der längst alle Urkunden oder Halstücher entsorgt und sich sogar das Sächseln abgewöhnt hat und sich damit tröstet, „dass der Anteil, den die DDR-Zeit in seinem Leben einnahm, mit fortschreitendem Alter immer geringer wurde“.

Jan dagegen erkundet staunend Kamenz’ Lost Places wie einen verfallenen Lokschuppen oder eine alte Werkshalle, sammelt verstaubte Club-Cola-Flaschen. Und grübelt über die seltsamen Ausflüge seiner Eltern, etwa zum Großteich im benachbarten Deutschbaselitz, wo sein verbitterter Vater einst als Karpfenzüchter arbeitete.

Der jüngere Bruder von Baselitz scheitert in der DDR

So lange, bis die Menschen auch hier lieber Alaska-Seelachs aus der Tiefkühltruhe wollten. Warum aber verlangt sein Vater jetzt von ihm, er solle sich von Thorsten Kern fernhalten, durchwühlt sogar heimlich dessen Schuhkarton? Was will Kern überhaupt von ihm? Einmal schreit der Alte: „Deine Familie ist der Grund für die ganze Scheiße und für alles, was passiert.“

Alternierend zu Jans Geschichte erzählt Rietzschels Roman, nicht immer chronologisch, eine zweite, die in der Nachkriegszeit beginnt. In deren Zentrum stehen zwei Brüder, Hans-Georg und Günter Kern, ersterer besser bekannt unter seinem Künstlernamen Georg Baselitz. Etliche Elemente dieser Geschichte sind der Realität entnommen: der Umzug des älteren Bruders in den Westen Ende der fünfziger Jahre, seine steile Karriere als Maler, das tragische Steckenbleiben des jüngeren Bruders in der DDR nach dem Mauerbau.

Günter Kerns Konflikte mit der Partei, die ihm wegen „ungenügender politisch-ideologischer Reife“ das Studium verbot und ihn von der Stasi überwachen ließ, die aktiv die Entfremdung der Brüder vorantrieb.

"Sie schwebten in einer Zwischenwelt"

Vieles davon ist aber auch Fiktion, nicht zuletzt, dass der jüngere Kern von der Stasi am Ende in den Selbstmord getrieben wird. In seinem Nachwort bedankt sich der Autor bei dem heute 79-jährigen Günter Kern für die Materialien und sein Einverständnis damit, „wie ich sie arrangierte, umdichtete und nach meiner Vorstellung dramatisierte.“ Wie die beiden Familiengeschichten, die fiktive Jans und die halbfiktive der Familie Kern, im Roman zusammenhängen, soll hier freilich nicht verraten werden.

Bemerkenswert ist allerdings der qualitative Unterschied zwischen den beiden Romanhälften – als wäre das dokumentarische Material für Lukas Rietzschel eher Hemmschuh als Inspirationsquelle gewesen. Umso überzeugender ist dagegen Rietzschels Darstellung etwa von Jans Vater, die interessanteste Figur des Romans.

Im Unterschied zu den im Suff oder Suizid endenden Ex-NVA-Offizieren im Ort versteht er sich als Wendegewinner. Stolz bezeichnet er sich als „Arbeiter“, studiert aber unverdrossen die Wirtschaftsseiten und rastet schon aus, als sein Sohn zufällig eine SPD-Veranstaltung besucht.

Mit seinen Widersprüchen und seiner Orientierungslosigkeit erinnert dieser Vater seinen Sohn an die Figuren in den Gemälden Georg Baselitz’, auf den Kopf stehend, haltlos im Nichts treibend: „Mutter, Vater. Für Jan waren sie Raumfahrer. Schwebten in einer Zwischenwelt, ihrem Ausgangspunkt entrissen. Während sie schwebten, hatte sich die Welt schon ein Dutzend Mal weitergedreht.“ Nicht nur dieses Bild macht „Raumfahrer“ zu einem starken Werk eines talentierten Autors, von dem noch einiges zu erwarten ist.

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