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Favela-Alltag in Rio de Janeiro. Militärpolizei bei einem Einsatz in Rocinha.

© Mauro Pimentel/AFP

Rassismus, Faschismus, Militarismus: Ein Blick in die finstere Seele Brasiliens

Der Bolsonarismus legt die brutalen Widersprüche der brasilianischen Gesellschaft offen. Alle tragen Mitverantwortung für die Radikalisierung. Ein Gastbeitrag.

Der Text erschien zuerst auf Portugiesisch bei der Deutschen Welle Brasilien. Übersetzung von Philipp Lichterbeck.

1. Es ging uns niemals besser. Alles ist sehr gut – fast optimal, würde ich sagen. Ich muss das erklären.

2. Für den französischen Schriftsteller Georges Perec ist es immer erst das außergewöhnliche Ereignis, das uns etwas erzählt. „Die Züge beginnen erst dann zu existieren, wenn sie entgleisen, und je mehr Fahrgäste dabei sterben, umso mehr existieren die Züge; die Flugzeuge finden erst dann zur Existenz, wenn sie entführt werden.“ Nicht durch Zufall sind wir heute von der Realität berauscht.

Die Demokratie kam in den Favelas nie an

Rund um den Äquator haben jedoch einige Gesellschaften ausgeklügelte Mechanismen entwickelt, um bestimmte Katastrophen zu verbergen und sogar zu normalisieren. Das brasilianische Bürgertum zum Beispiel war immer sehr zufrieden mit der Verfolgung der Schwarzen und der Armen und den Konzentrationslagern, die für sie bereitstehen (hierzulande werden sie Zuchthäuser genannt).

Es gibt in Brasilien ein riesiges (und für viele unsichtbares) Schienennetz, das auf den Abgrund zuführt. Sein Ursprung liegt in der Entmenschlichung des anderen – wie in jedem Faschismus, jeder Sklaverei, jedem Unterdrückungsregime.

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Die Demokratie – sie kam in unseren Favelas nie an; unser so oft beschworener Rechtsstaat – er wurde nie Wirklichkeit. Aber erst jetzt, unter der Bolsonaro-Regierung, die auch Weiße offen bedroht, scheint unser tägliches Massaker ein wenig sichtbarer zu werden.

3. Selbst die Covid-19-Pandemie hat den Genozid nicht gestoppt. In Brasilien enden die Militärdiktaturen immer nur für die Weißen, nie für die Schwarzen.

Vergangene Woche wurde der Fall des 14-jährigen João Pedro Martins bekannt, der von der Polizei ermordet wurde, während er mit seinen Cousins spielte. Die Beamten warfen zwei Granaten und schossen 72-mal auf das Haus seiner Familie in São Gonçalo. Am nächsten Tag wurde João Vitor da Rocha, 18, von einem Militärpolizisten erschossen, während Freiwillige Lebensmittel in der Favela Cidade de Deus verteilten.

Es gibt ein Video vom Vorsitzenden einer Anwohnervereinigung, der sagt: „Wir sind geborene Ziele. João Pedro war gestern! Sie sind Mörder, und wir sind ihre Zielscheiben, Bruder! Wir sind schwarz, Bruder.“

J. P. Cuenca, 41, ist Autor und Filmemacher. Auf Deutsch ist von ihm u. a. der Roman „Das einzig glückliche Ende einer Liebesgeschichte ist ein Unfall“ erschienen. Seinen preisgekrönten Roman „Der Tod des J. P. Cuenca“ hat er selbst verfilmt.
J. P. Cuenca, 41, ist Autor und Filmemacher. Auf Deutsch ist von ihm u. a. der Roman „Das einzig glückliche Ende einer Liebesgeschichte ist ein Unfall“ erschienen. Seinen preisgekrönten Roman „Der Tod des J. P. Cuenca“ hat er selbst verfilmt.

© Rafael Andrade

4. Obwohl eine fragile Identitätspolitik in jüngerer Zeit versuchte, die Ungerechtigkeit etwas abzumildern, hat das Land, das als letzte westliche Nation die Sklaverei abschaffte, seinen strukturellen Rassismus beibehalten.

Diese Ungleichheit findet sich nicht nur in den Unterschieden im Einkommen und im Zugang zu Bildung und Gesundheit wieder, sondern in viel brutaleren Zahlen. 42 000 Menschen wurden 2019 in Brasilien ermordet, zwei Drittel von ihnen waren schwarze Männer, die meisten zwischen 15 und 29. Auch Brasiliens Polizei tötete 2019 viel, rund 6000 Menschen. Brasiliens Beamte sind damit die gewalttätigste Polizeitruppe der Welt. Mehr als 75 Prozent ihrer Opfer sind schwarz.

Junge Schwarze werden ausgerottet

Selbst die Pandemie hat sie nicht gestoppt. Im April tötete Rios Polizei 60 Prozent mehr Menschen bei Operationen in Armenvierteln als im Vorjahresmonat.

5. Der Genozid war immer da, aber er sorgte für wenig Aufsehen in den Jahren der Sozialdemokratie unter Präsident Fernando Henrique Cardoso (1995-2002) sowie während des links-reformistischen Zyklus’ der Arbeiterpartei (2003-2016). Die Ausrottung junger Schwarzer und das Fehlen grundlegender Bürgerrechte für Bevölkerungsgruppen wie Indigene, Kleinbauern und Fischer wurden nie mit Dringlichkeit behandelt. Von keiner Regierung der Neuen Republik seit 1988.

Wie den berühmten „Kuchen“ des früheren Finanzministers Delfim Neto, der erst wachsen müsse, bevor er verteilt werden könne, hob man sich auch die Grundrechte für Millionen von Brasilianern für später auf. Der Staat kriminalisierte die Armen durch den mörderischen „Krieg gegen die Drogen“ – oder er vertrieb sie von ihrem Land durch verbrecherische Projekte wie das Wasserkraftwerk Belo Monte.

6. An den Tischen des vorolympischen Rio de Janeiro, an denen die „tugendhafte“ Allianz aus Bund, Land, Kommune, linker Arbeiterpartei, rechtem Zentrum und dem TV-Sender Globo saß, wäre es sehr peinlich gewesen, all das einmal anzusprechen, hätte es doch die netten Nebeneinkünfte der Beteiligten infrage stellen können.

Der Film „Tropa de Elite“ ebnete den Weg des Bolsonarismus

Es sind die brutalen Widersprüche der brasilianischen Gesellschaftsordnung. Wenn man sie anspricht, erntet man meistens Augenrollen. Oder man wird bedroht. Die erste Morddrohung erhielt ich 2007, nachdem ich eine Kolumne über den Film „Tropa de Elite“ veröffentlicht hatte, diese Anthologie nekrophiler Memes im Spielfilmformat. Als kultureller Virus ebnete der Film – er gewann den Goldenen Bären der Berlinale 2008 – den Weg für den Bolsonarismus. Er normalisierte erstmals seit der Redemokratisierung einen neofaschistischen Diskurs.

Wenige Monate nach der Premiere forderte der Abgeordnete Flávio Bolsonaro (Sohn des jetzigen Präsidenten), dass das Symbol der im Film dargestellten Sondereinheit Bope zum Kulturerbe von Rio de Janeiro werde. Es zeigt einen Totenkopf mit zwei gekreuzten Pistolen. Zehn Jahre später trat sein Vater im Wahlkampf in Polizeikasernen auf und brüllte den Slogan der Elitetruppe: „Totenkopf!“

7. Damals schrieb ich, dass der Film wie ein Motivationsvideo für die Bope wirkte. Es war ein Werk, das sich als Anklage verkleidete, in Wirklichkeit aber den Gegenstand seiner Kritik feierte. Ich brachte seinen großen Erfolg mit den Folterern unserer letzten Diktatur in Verbindung, die sich nun, nachdem sie den Staat geplündert und ihre Gegner ermordet hatten, am Strand der Copacabana dem Federballspiel widmeten. Einige dieser Faschisten schrieben mir, dass sie meine Adresse wüssten, Waffen hätten und mir auf den Fersen seien. Ich veröffentlichte einige der Drohungen und die Namen der Absender, aber der Platz meiner Kolumne in der Zeitung „O Globo“ reichte nicht für alle.

Hakenkreuzfliesen im Pool

8. Zwei Jahre später war ich bei einer Party von Adidas in einer Villa in Gávea, einem der nobelsten Stadtviertel Rio de Janeiros. Eine Mauer trennt es von der größten Armensiedlung Brasilien, der Favela Rocinha. Als ich zur Bar ging, sah ich die Hakenkreuzfliesen im Pool. Und hinter den Biergläsern der Bar prangte ein Porträt von Admiral Karl Dönitz, den Hitler bei Kriegsende zum Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches ernannt hatte. Obwohl Adidas sicher Millionen von Euros für Öffentlichkeitsarbeit aufwendet, schienen sich die brasilianischen Produzenten der Adidas-Party nicht um die Symbolik zu kümmern. Das Haus sei angeblich von einem Sammler gemietet worden, hieß es.

9. Im Jahr 1998 verteidigte der Abgeordnete Jair Bolsonaro in einer Rede in Brasília die Studenten der Militärakademie von Porto Alegre, weil sie Adolf Hitler zur meistbewunderten historischen Persönlichkeit gewählt hatten: „Sie wählten jemanden, der es verstand, Ordnung und Disziplin durchzusetzen.“ Vier Jahre später sagte Bolsonaro: „Hitler war ein großer Stratege.“

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2018 lautete der Slogan von Bolsonaros Wahlkampagne, „Brasilien über alles“. Immer wieder gebrauchen Regierungsmitglieder Nazi-Phrasen. Bolsonaros Kommunikationsabteilung enthüllte in diesem Monat eine Kampagne unter dem Motto: „Arbeit, Einheit und Wahrheit machen frei.“ Als Brasiliens Kulturstaatssekretär Ricardo Alvim in einer Rede im Januar Joseph Goebbels paraphrasierte und den Nazi-Propagandaminister nachahmte, gab es einen kleinen Skandal.

Erst kürzlich wurde nun das Video einer Kabinettssitzung öffentlich und man erfuhr, wie sich Wirtschaftsminister Paulo Guedes die Stimulierung der Ökonomie nach der Pandemie vorstellt. Er führt den nationalsozialistischen Wirtschaftsminister Hjalmar Schacht als gutes Beispiel dafür an, wie man sich militarisierte Arbeitskräfte zunutze machen könne.

Bolsonaros hat niemanden getäuscht

Chiles Diktator Augusto Pinochet? Der brasilianische Folterknecht Carlos Ustra? Es reicht dem Bolsonarismus nicht, sich nur auf lateinamerikanische Faschisten zu beziehen. Man will zurück zu den Ursprüngen.

Vergangenen Sonntag teilte Bolsonaro auf Twitter ein Video mit einem Satz, der Benito Mussolini zugeschrieben wird (und den auch Donald Trump 2016 zitierte): „Es ist besser einen Tag als Löwe zu leben als 100 Jahre als Schaf.“ Nur ein paar Stunden zuvor hatten Bolsonaro-Anhänger mit Fahnen des franquistischen Spaniens und der Sammelbewegung der ukrainischen Rechtsextremisten, Pravyi Sektor, im Zentrum von São Paulo demonstriert. Und in Brasília, unserer Hauptstadt, waren in der Nacht Maskierte mit Fackeln vor dem Verfassungsgericht aufmarschiert. Sie imitieren die Symbolik rassistischer Gruppen aus den USA.

Nichts davon sollte überraschen. Bolsonaro und seine fanatischen Anhänger haben niemanden getäuscht. Wenn man an Bolsonaro etwas bewundern kann, dann seine Kohärenz. Im Lauf der Jahre haben er und sein Clan aus Milizionären nie verheimlicht, wer sie sind. Viele von Bolsonaros 57 Millionen Wählern wussten genau, für wen sie stimmten.

10. Ich sehe heute keine großen Unterschiede mehr zwischen den Faschisten und den feinen Bürgern, die nur ihren Komfort beschützen, ihre Einkommen und Schecks – und deren einzige Antwort auf Ungerechtigkeit, Vertreibung und die ständigen Massaker an Schwarzen und Indigenen das gleichgültige Schulterzucken ist.

Ich sehe auch keine Unterschiede mehr zu den Politikern, die die Chance hatten, etwas gegen die Ungerechtigkeit zu tun – sich aber entschieden, es nicht zu tun. Oder zu den Journalisten, die dazu beitrugen, einen faschistischen Kandidaten zu normalisieren. Oder zu den Kommentatoren, die behaupteten, es gäbe eine Äquivalenz zwischen einem demokratischen Kandidaten und einem Faschisten.

Und schließlich zu denjenigen, die es schaffen, auf einer Party fröhlich neben Hakenkreuzen zu trinken. Die Einzigen, die damals gingen, waren ich und zwei Freunde: eine schwarze Frau und ein jüdischer Mann.

Und vielleicht ist deshalb jetzt alles in Ordnung. Viel besser, als es je war. Denn zum ersten Mal in seiner Geschichte zeigt Brasilien seine faschistische, rassistische und frauenfeindliche Seele. Ist sie hässlich? Ja, aber echt. Wir waren noch nie so wach.

J. P. Cuenca

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