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Raoul Schrott, geboren 1964 in Landeck, Tirol

© Peter-Andreas Hassiepen/Hanser

Raoul Schrott beim Literaturfestival: Der Dichter als Evoluzzer

Internatioales Literaturfestival Berlin: Raoul Schrott untersucht die naturgeschichtliche Entwicklung des Menschen.

Die Naturwissenschaften haben dem Menschen schon viele narzisstische Kränkungen beigebracht – angefangen mit Charles Darwin, der die göttliche Krone der Schöpfung mit seiner Evolutionstheorie wieder ins Tierreich einsortierte, über die Fruchtfliege Drosophila, jenen Modellorganismus, der ihn über seine eigenen genetischen Geheimnisse aufklärt, bis hin zu den Memen, den soziokulturell vererbten Codes des menschlichen Verhaltens. 95 Prozent dieser Codes, erklärt der Schriftsteller Raoul Schrott derzeit täglich seinem Publikum beim Internationalen Literaturfestival, laufen völlig unbewusst ab und blamieren Descartes’ Annahme, dass der Mensch ist, wo er denkt.

Was macht den Menschen also zum Menschen und lässt ihn wie die vierjährige Tochter der Kommunikationsforscherin Simone Pika fragen: „Mama, bin ich echt?“ Mit ihr bestreitet Schrott den ersten von elf Abenden zum Thema „Evolution der menschlichen Kultur“. Pika forscht über Kommunikation bei Tieren, und sie nimmt dabei kaledonische Krähen ebenso ins Visier wie Affen oder Papageien. Dass Tiere lernfähig sind, weiß jeder Hundehalter, doch die genannten Krähen etwa verstehen es, mithilfe von Werkzeugen Probleme in der physischen Welt zu lösen, während Affen auch soziale Kompetenzen entwickeln. Papageien dagegen sind mehr als nur Imitationskünstler und „kommunizieren“ in bestimmten Kontexten durchaus sinnhaft.

Der Kon-Text – also die schon begrifflich auf den sprachmächtigen Menschen bezogene Situation – ist auch der Schlüssel für das Kulturverhalten unserer nächsten tierischen Verwandten, der Primaten, mit denen wir zu fast 99 Prozent genetisch übereinstimmen. Tobias Deschners Untersuchungen über das gruppenspezifische Verhalten von Schimpansen zeigt, dass bestimmte Handlungsweisen, etwa das Abreißen von Blättern, in unterschiedlichen Gemeinschaften etwas völlig anderes bedeuten können: Einmal wollen die Tiere nur spielen, ein anderes Mal ist es die Aufforderung zum Sex.

„Es gibt nichts genuin Deutsches.“

39 Wege haben die Primatologen ausgemacht, wie Affen Treiberameisen fischen, wofür es weder genetische noch ökologische Gründe gibt. Wie aber wird dieses Verhalten weitergegeben, wodurch ändert es sich und wie entstehen Verhaltensrituale? Vieles spricht dafür, dass durch den Wechsel der Gruppe Handlungen adaptiert werden, und insbesondere Weibchen scheinen wichtige Kulturvermittler zu sein.

Moderator Schrott mischt sich immer wieder mit luziden Überlegungen zur bewegungsfreudigen menschlichen Kultur in die Vorträge ein. Und einen so lehrreichen wie vergnüglichen Abend lang bestreitet er frei sprechend einen eigenen Vortrag über die Evolution von Ideen, wie er sie auch in seinem jüngsten Buch „Politiken & Ideen“ (Hanser) entwickelt. Alle Stoffe und Handlungsmuster, erklärt er, verbreiteten sich viral. Das gelte auch für nationale Identitäten: „Es gibt nichts genuin Deutsches.“

In den Höhlen der Schwäbischen Alb

Er startet bei der Habsburgischen Kanzleisprache und den Käsemachern, die ihr Gen für Weißhäutigkeit kasachischen Nomaden zu verdanken haben, um in atemberaubender Geschwindigkeit ein aus dem Persischen und Arabischen überliefertes Versepos aufzurollen, von dem sich das Muster der Rahmenerzählung ableitete und nach Europa einwanderte, um schließlich die Vorlage für Sherlock Holmes und seine Methode des Spurenlesens zu liefern – alles im Zeichen des glücklichen Zufalls, der von Robert K. Merton vom Märchen über die drei Prinzen von Serendip zum wissenschaftstheoretischen Begriff geadelten serendipity.

Die Tübinger Urgeschichtlerin Ewa Dutkiewicz begibt sich in die Höhlen der Schwäbischen Alb. Meist sind aus der Altsteinzeit nur die Darstellungen von Tieren bekannt, doch es gibt auch menschenähnliche Geofakte. Am bekanntesten ist die Venus von Willendorf, auch Löwenmenschen und Gestalten mit überdimensionierten Brüsten und exponierter Vulva oder die Masken von La Roche-Cotard belegen künstlerische Aktivitäten, in denen sich die menschliche Daseinsberechtigung neben den Tieren manifestiert. Ob es sich dabei um Fruchtbarkeits- oder Sexsymbole oder eher Ahnenverehrung oder Kommunikationsmittel handelte, lässt sich nicht mehr sagen.

Von der Erfindung der Sprache

Mit Daniel L. Everett stellt Schrott einen amerikanischen Linguisten vor, der als Evangelikaler ursprünglich einmal die Pirana, ein Volk im Amazonas-Becken, missionieren sollte. Vor einem Jahrzehnt forderte er die Wissenschaft heraus, indem er behauptete, dass das menschliche Sprachvermögen nicht vorgängig im menschlichen Gehirn angesiedelt sei. Sprachen beruhten nicht auf einer einzigen Universalgrammatik, sondern seien Effekt von Lebensumständen. Vieles spreche dafür, dass bereits der homo erectus vor anderthalb Millionen Jahren über eine Art von Sprache verfügte, sie sozusagen erfunden habe. Everetts Theorie geht zurück auf seine Forschungen zur Pirana-Sprache, in der es beispielsweise keine Begriffe für Farben oder Zahlen gibt und kaum Wörter, die zeitliche Umstände umschreibe. Wichtig sind dagegen Intonationsabstufungen, die Everett mit sichtlicher Spiellust nachahmt. In ihnen schlägt sich eine fast komödiantische Repräsentation von sozialen Rollen nieder.

Im Falle der Pirana-Sprache hat die Kulturwanderung, auf die Schrott immer wieder rekurriert, nicht funktioniert, sie fand keine virale Verbreitung. Doch wir wissen von ihr, weil Everetts Neugier auf das Fremde viel größer war als seine Angst vor kultureller Ansteckung. Bis zum Freitag begibt sich Schrott noch zweimal auf intellektuelle Abenteuerreise. Mit dem Paläobotaniker Michael Krings spricht er am Donnerstag über die Entstehung der Pflanzen, mit dem Paläontologen über die Entstehung der Reptilien und Säugetiere.

Details unter literaturfestival.com

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