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Kultur: Raimund Hoghe und Charlotte Engelkes im Tanz-Dialog, heute, 21 Uhr Sophiensäle

Auf der Suche nach dem Prototyp des schönen Menschen projizierten Wissenschaftler mehrere Hundert Fotos verschiedener Frauengesichter übereinander. Heraus kam das Bild einer Frau mit nicht zu schmalen und nicht zu wulstigen Lippen.

Auf der Suche nach dem Prototyp des schönen Menschen projizierten Wissenschaftler mehrere Hundert Fotos verschiedener Frauengesichter übereinander. Heraus kam das Bild einer Frau mit nicht zu schmalen und nicht zu wulstigen Lippen. Die Augen waren keine Kulleraugen, aber auch keine Schlitze, Durchschnittsaugen, die Nase unauffällig wohlgeformt. Das Durchschnittliche wird in unserer Gesellschaft oft als schön empfunden. Und doch zerfällt der Begriff Schönheit immer wieder in der Lebens-Erprobung, weil ein scheinbar mit Makeln gestrafter Mensch plötzlich die größte Anziehungskraft ausübt.

"Dialogue with Charlotte" begibt sich in diese Grauzone der tatsächlichen und empfundenen Schönheit von Körpern. Zwei Menschen treffen zusammen, Boy meets Girl, eine Beziehung beginnt. Der Mann, 1,54 Meter klein mit Buckel, reicht der grazilen Zwei-Meter-Frau gerade bis zum Busen. Ihre Arme sind so lang wie seine Beine. Er bewegt sich schnell, manchmal eckig. Sie bewegt sich wellenartig, manchmal ungelenk.

Zu Beginn stehen der Tänzer und Choreograf Raimund Hoghe und die schwedische Schauspielerin Charlotte Engelkes Hand in Hand auf der Bühne. Die Vorhänge sind schwarz, beide tragen schwarz. Engelkes Haar und ihre Lippen sind rot - ein modernes Schneewittchen, das einem der Zwerge näher gekommen ist. Beide trippeln ganz langsam zu einem Chanson von Edith Piaf, spielen mit kleinen Kügelchen Boule, bewerfen sich in einem anarchischen Ausbruch damit, legen die Goldkugeln neben ihre Körper und hinterlassen Sternbilder auf dem Fussboden. Zu jeder Bewegung gibt es neue Musik: Judy Garland, Chavela Vargas, Marlene Dietrich. Dann schreibt Hoghe in Stenoschrift auf den Boden: "Es waren zwei Königskinder." Wann schreibt ein Mensch schon mal Steno? Die meisten nie im Leben. Mit unspektakulären und seltenen Bewegungen lässt Hoghe die beiden unnormierten Körper nach ihrer eigenen Sprache und nach ihrer Geschichte suchen. Die Körper sprengen nicht zitternd-zuckenden ihre Grenzen, sondern tasten sich ganz sanft an sich selbst heran. Ist das nun Tanz oder Performance? Die Frage bleibt ungelöst.

In einem der wenigen Exzesse des Stücks tanzt Engelkes einen Mambo, wiegt die Welt leicht wie eine Murmel in den Hüften und führt dabei doch einen Kinderreigen auf. Hoghe sitzt still im Hintergrund. Die Beziehung zwischen den beiden beruht auf ihrem Unterschied. Sie verteilt Postkarten, er sammelt sie ein. Sie wiegt sich traumwandlerisch zur Musik, während er unruhig im Hintergrund hin und her läuft. Sie liegt schlafend auf dem Boden, er legt sich nicht dazu, sondern kämmt ihr langes Haar. Die rührendste Szene in dem traumwandlerischen Stück.

"Dialogue with Charlotte" ist eines der wenigen politischen Stücke des Tanzfests. Hoghe zwingt die Zuschauer dazu, auf die beiden Körper zu gucken und das Geheimnis im Makel wahrzunehmen, statt political correct das Anderssein durch Übersehen zu nivellieren. Der Körper wird zur Bio-Masse Fleisch und von all seinen Festlegungen befreit. Eine Reise in die eigene und fremde Geschichte des Körpers, steht im Pressetext. Dieses Stück ist eine Fahrt wert.Noch einmal heute, 21 Uhr, Sophiensäle

Simone Kaempf

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