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Musik für Tonband und Verstärker. Die argentinische Komponistin Beatriz Ferreyra (hier 1967) forschte in den Sechzigerjahren im Office de Radiodiffusion Television Française in Paris.

© Bernard Perrine/HKW

Radiokunst im HKW: Ein Satz heiße Ohren

Rauschen im Äther: Die auditive Ausstellung „Radiophonic Spaces“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt erforscht Originaltonkunst und die Geschichte des Hörens.

Der erste deutsche Rundfunksender nahm in Berlin seine Arbeit auf, vor 95 Jahren, am 29. Oktober 1923. Eine Stunde dauerte das Musikprogramm, das von einem Bürogebäude am Potsdamer Platz ausgestrahlt wurde – allerdings hatte noch kaum jemand ein Empfangsgerät. Das änderte sich schnell. Innerhalb kürzester Zeit wurde das Radio zum Massenmedium, revolutionierte die Informationsverbreitung und das Unterhaltungswesen. Dabei eröffnete es auch vollkommen neue Möglichkeiten, mit Sprache und Klang künstlerisch zu arbeiten.

Der Geschichte, Ästhetik und Technik der Radiokunst widmet sich das Projekt „Radiophonic Spaces“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt, das an diesem Donnerstag startet. Mit einem begehbaren Radioarchiv und der dreitägigen Eröffnungsveranstaltung „Der Ohrenmensch“ untersucht das HKW gemeinsam mit Wissenschaftlern und Künstlern die sogenannte Radiophonie. So wird die genuine Hörerfahrung bezeichnet, bei der sich der Klang des Werks mit den Nebengeräuschen des Mediums verbindet, zum Beispiel mit dem Rauschen der Übertragung.

Radiokunst ist wenig erforscht

„Die Radiokunst ist trotz ihrer hundertjährigen Geschichte immer noch sehr unbekannt“, sagt Nathalie Singer, die das Radioarchiv konzipiert hat. Das liege zum einen daran, dass die Radiokunst aufgrund ihrer Interdisziplinarität wissenschaftlich noch wenig erforscht sei. Zum anderen seien die Archive der Rundfunksender, in denen die meisten historischen Aufnahmen lagern, nicht öffentlich zugänglich. Singer ist Professorin für Experimentelles Radio an der Bauhaus-Universität Weimar. Bereits seit einigen Jahren baut sie dort ein Forschungsarchiv zu experimentellen Radiowerken auf, das inzwischen rund 6000 Arbeiten umfasst.

Gut 200 davon werden mit dem begehbaren Archiv im HKW nun einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Zu hören sind unter anderem Arbeiten von Bertolt Brecht, Friederike Mayröcker und René Pollesch, von Künstlern wie Christina Kubisch, László Moholy-Nagy und Olaf Nicolai, aber auch Musikwerke, etwa von John Cage. „Die Auswahl soll zugleich die Vielfalt und zentrale wiederkehrende Aspekte der Radiokunst wiedergeben, wie Originaltöne als Gestaltungselement oder das Hörspiel als Darstellungsform“, sagt Nathalie Singer.

Begehbares Radioarchiv und digitale Mindmap

Ausgestattet mit einem speziell programmierten Smartphone und Kopfhörern können sich die Besucher die bald hundertjährige Geschichte der Radiokunst und Radiofonie im Foyer des Hauses wortwörtlich erlaufen. An silbrig glänzenden Drähten baumeln Sender von der Decke. Nähert man sich einer dieser Antennen, löst man wie eine menschliche Sendersuchnadel das Abspielen einzelner Stücke auf dem Smartphone aus. Die gut 200 Werke sind in 13 Themenbereiche unterteilt. Ähnlich wie einen Sender am Radiogerät kann man auf dem Smartphone einen der Themenbereiche wählen. Steht man noch nicht nahe genug an einer der Antennen, flirrt das Ätherrauschen durch den Kopfhörer. So werden zentrale Aspekte des Radiohörens szenografisch und auditiv umgesetzt und das Radio, wie Nathalie sagt, wird „ zum dreidimensional erfahrbaren Raum“.

Ergänzt wird das begehbare Radioarchiv von einer digitalen Mindmap. An Computerterminals kann man zusätzliche Informationen zu den Werken und Autoren abrufen, Skripte, Partituren, Videos oder Fotos der Aufnahmestudios. Die Mindmap will laut Singer außerdem Querverbindungen zwischen einzelnen Werken zeigen und sichtbar machen, „wie Wissen gewandert ist“.

Die Zukunft der Radiokunst

Im Rahmen der Auftaktveranstaltung „Der Ohrenmensch“ untersuchen Künstler und Wissenschaftler auf einer „Bühne des Hör-Wissens“ zudem die ästhetischen, technischen und politischen Handlungsmöglichkeiten im radiophonen Raum. Im Mittelpunkt der Vorträge, Performances und Konzerte stehen das Verhältnis von Mensch und Technik und die Veränderungen, denen es unterliegt.

„Wir spannen einen Bogen von den Anfängen der Radiofonie bis zu ihrer Gegenwart und Zukunft in Zeiten der Digitalisierung“, erklärt die Kuratorin Katrin Klingan. „Was passiert, wenn ein neues Medium entsteht? Welche Erfahrungen haben wir im Laufe des 20. Jahrhunderts im Umgang mit Radioapparaten eingeübt? Und wie sind sie Teil unseres Wissens geworden?“ Auch die politische und gesellschaftliche Implikation des Radios wird thematisiert. So erkunden Künstlerinnen und Künstler im Rahmen eines „Funkkollegs" etwa die Erinnerungsmacht, die sich allein darin manifestiert, welche Hörstücke archiviert und damit der Nachwelt überliefert werden und welche nicht. Das traditionelle Radiohören und die Radiogeräte verschwinden immer mehr aus dem Alltag – zumindest in der westlichen Welt. Es steht auch die Zukunft der Radiokunst auf dem Programm.

Nathalie Singer macht sich keine allzu große Sorgen. „In unserer visuell überfrachteten Zeit steigt das Interesse am Hören wieder“, ist sie überzeugt. „Radiokunst fasziniert mit der Freiheit, die sie dem Hörer lässt. Sie eröffnet Welten und lässt den Raum assoziieren, imaginieren und erinnern.“ Das zeigt sich an so unterschiedlichen Phänomenen wie öffentlichen Hörspielvorführungen, dem Erfolg von Podcasts oder auch der verstärkten Hinwendung der bildenden Kunst zu auditiven Arbeiten. Kompositionen, Collagen, Samples – auch die Klangkunst kommt im HKW nicht zu kurz.

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